Knochenfinder
sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Tine erzählte von ihrer Arbeit im Frisiersalon, von unzufriedenen Kundinnen und affektierten Lackaffen, und Natascha hörte ihr zu und vergaß dabei für eine Zeit lang die negativen Erlebnisse in ihrem Job. Ihre Freundin konnte sich immer wunderbar über andere Menschen aufregen und tat dies auch mit Hingabe. Doch gleichzeitig war Tine offen für neue Bekanntschaften und hatte ein großes Herz, das auch die größten Deppen noch aufnehmen konnte. Sogar Rafael. Allerdings würde sie ihr gegenüber natürlich niemals zugeben, dass ihr Exfreund ein Idiot war.
Natascha dachte oft, dass sie beide so eine Art Zwillingspaar waren. Tine brachte Licht in Nataschas dunkle Ecken und freute sich gleichzeitig über die Helligkeit, die Natascha in ihre Finsternis sandte. Sie ergänzten sich in vielen Punkten auf erstaunlich perfekte Weise.
Tine berichtete ausführlich, was sie zuletzt erlebt hatte. »Na gut, Süße«, sagte sie zum Schluss und gähnte. »Ich versuch jetzt mal zu schlafen. Telefonieren wir die Tage noch mal? Ich bin ja so gespannt, wie das mit Viktor weiterläuft. Gute Nacht!«
»Ja, gute Nacht, Tine. Schöne Träume!«
Natascha setzte sich aufrecht, und Fritz floh von ihrem Bett. Er trottete in die Küche, und Natascha hörte ihn am Katzengras knabbern. Es gab ein knackendes Schmatzen, und dann konnte sie sein unrhythmisches Hoppeln im Wohnzimmer hören. Kurz darauf gab er würgende Geräusche von sich.
Natascha sprang auf. »Fritz!«
Aber sie kam zu spät. Der Kater hatte sich bereits erbrochen und eine handtellergroße Lache aus halb verdautem Nassfutter, zerkleinertem Katzengras und Speichel auf dem kleinen Teppich im Wohnzimmer hinterlassen.
»O Mann, muss das denn sein? Wenn du schon kotzen musst, dann mach das wenigstens im Flur, da kann ich das wieder wegwischen!«
Doch der Kater sah sie nur aus treuherzigen Augen an und trottete in die Küche, um sich erneut am Katzengras zu bedienen. Natascha seufzte. Mit einem Freigänger wäre ihr das nicht passiert – aber dann müsste sie tote Mäuse und verletzte Vögel vom Wohnzimmerteppich aufsammeln. Das wäre auch nicht viel besser.
Sie holte einen feuchten Lappen aus dem Badezimmer, um die Bescherung aufzuwischen. Es roch intensiv nach Katzenfutter, und Natascha rümpfte die Nase. Diese übelriechende Hinterlassenschaft sollte nicht im Teppich bleiben. Unter dem Waschbecken im Bad hatte sie noch Teppichreiniger, der hoffentlich helfen würde.
Rasch holte sie die Dose. Als sie zurückkam, saß Fritz neben dem feuchten Fleck und blickte sie neugierig an.
»Ja, schau dir das nur an. Wenn du ein Hund wärst, könnte ich deine Nase reinstecken. Aber was nutzen schon Erziehungsversuche bei einer Katze?«
Natascha öffnete die Dose mit dem Teppichreiniger und sprühte eine Hand voll weißen Schaum auf den Boden. Sogleich wurde sie in eine intensiv riechende Duftwolke gehüllt und zuckte unwillkürlich zurück: Vor ihrem inneren Auge erblickte sie gelbe Blitze. Eigentlich benutzte sie solche aggressiven Reiniger nur ungern, aber sie konnte die Überreste von Erbrochenem unmöglich im Teppich lassen. Sie nahm einen Lappen und begann, den Fleck damit zu bearbeiten. Natascha rümpfte die Nase, und Ekel breitete sich in ihr aus. Und Zorn. Der Teppich war gerade einmal zwei Wochen alt, und der Kater musste sofort seine Spuren darauf hinterlassen.
Plötzlich hatte sie das Gefühl eines Déjà-vus – als hätte sie diese Situation schon einmal erlebt. Natascha hielt beim Putzen inne. Nein, das konnte nicht sein. Der Teppich war neu, und vorher hatte Fritz nur auf das Laminat gekotzt. Aber wodurch wurde diese Déjà-vu-Empfindung dann ausgelöst? Sie schloss die Augen, doch das Gefühl blieb.
Und plötzlich fiel es ihr ein: Dieses innere Bild mit den gelben Blitzen hatte sie heute schon einmal gesehen, und zwar am Morgen, als sie an diesem Bonuscache am Waldrand gewesen war. Konnte das sein?
Sie stand auf, fühlte sich wie elektrisiert. Was hatte sich am Morgen ereignet, das nun in ihrem Wohnzimmer zu einem Déjà-vu-Erlebnis führte? Natascha überlegte. Es hatte mit der Synästhesie zu tun – aber auf welche Weise? Eine Eins war immer weiß, eine Zwei immer gelb. Montage waren rot, die Monate Oktober orange. Das hatte sich nie verändert, seit sie denken konnte. Mit der Musik war es schwieriger, aber trotzdem waren die Bilder eines Liedes stets gleich. Es fiel ihr nicht immer leicht, einzelne Instrumente oder Noten
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