Knochenfinder
herauszuhören, aber wenn sie sich bewusst damit beschäftigte, gelang es ihr nach einiger Zeit. Gerüche waren noch komplizierter. Aber Fritz’ Nassfutter aus Kaninchengulasch bildete eigentlich stets das gleiche Blaugrün – vorausgesetzt, es handelte sich um die gleiche Firma. Wenn sie den Hersteller wechselte, variierte auch das Geruchsbild.
Am schwierigsten waren jedoch die Gefühle einzuordnen. Manche Zustände wie Erschöpfung und Müdigkeit, die sie oft begleiteten, hatten ganz spezifische Farben, manchmal auch Formen. Zorn oder Verliebtheit hatten ebenfalls ein bestimmtes Farbschema; ihre Bilder variierten jedoch stark – je nachdem, welche anderen Empfindungen, wie zum Beispiel Melancholie und Neugierde, noch hinzukamen. Es kam selten vor, dass sich das Gefühlsbild eines komplexen Gemütszustandes wiederholte, weil immer etwas anders war. Aber es gab auch Bilder, die einander ähnelten.
So wie jetzt.
Was hatte also dieses Bild mit dem intensiven Gelb ausgelöst: ein Gefühl, ein Geruch, ein Gedanke? Ein Wort, an das sie gedacht hatte?
Plötzlich war sie hellwach. Diese Frage musste sie dringend lösen. Vielleicht war sie gerade auf etwas gestoßen, das einen entscheidenden Beitrag zur Lösung des Falles leisten konnte, doch sie vermochte es nicht zu greifen. Es war wie ein Wort, das einem auf der Zunge lag, auf das sie aber partout nicht kam.
Natascha sprang auf und lief vor dem feuchten Fleck auf dem Teppich auf und ab. Sie versuchte, das Bild zu greifen, seinen Ursprung zu finden und festzuhalten. Doch es fiel ihr nicht ein. Also ging sie wieder ins Schlafzimmer, um die Situation von eben zu wiederholen. Sie marschierte ins Wohnzimmer und dann ins Bad, bückte sich vor dem Waschbeckenunterschrank, kehrte zum verschmutzten Teppich zurück und kniete sich darauf nieder: Doch das half auch nicht weiter. Nur das Gefühl blieb, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Was das war, vermochte sie jedoch nicht zu erkennen.
Fritz lag mittlerweile auf der obersten Ebene seines Kratzbaumes und beobachtete sie mit einem halb geöffneten Auge.
»Ja, Fritz, du liegst da und schaust dir alles in Ruhe an, während ich mich hier zum Affen mache.« Sie seufzte. »Und ich frage mich gerade, ob ich dir dankbar sein sollte oder ob ich mich darüber ärgere. Eigentlich wollte ich mich mit einem Buch ins Bett legen, um ein wenig abzuschalten, und dann zeitig schlafen. Dann würde ich nämlich morgen früh ausgeruht sein und könnte konzentriert arbeiten. Doch dir habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt wie aufgezogen durch die Wohnung laufe, weil da etwas verborgen in meinem Hinterkopf herumspukt, das da unbedingt herauswill. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich drankomme!«
Fritz lag noch immer auf dem Kratzbaum und hatte sich kein bisschen gerührt. Auch das halb geöffnete Auge blickte sie so ausdruckslos an wie vor ihrem Selbstgespräch.
»Ach, vergiss es.« Sie ging zum Fenster und blickte nach draußen. Die Sonne schien noch immer, auch wenn es schon fast Abend war. Aber erst in zwei Stunden würde es wirklich dunkel sein. Sie fasste einen Entschluss: Sie würde zu der Stelle fahren, wo der Bonuscache versteckt gewesen war, um zur Ruhe kommen zu können. Wenn sie dem Déjà-vu auf die Schliche kommen wollte, musste sie sich wahrscheinlich an dem Ort aufhalten, an dem heute erstmals diese Empfindung aufgetreten war.
Und sie wusste auch schon, mit wem sie dorthin fahren wollte.
Aber so einfach, wie sie sich das gedacht hatte, war es doch nicht.
»Heute ist Mittwoch«, antwortete Simon, nachdem er ihren Anruf entgegengenommen und sich ihren Vorschlag angehört hatte. »Du weißt schon: mein Kumpelabend. Ich sitze hier grad mit José in der Dartkneipe, hab auch schon zwei Bier getrunken. Was willst du denn überhaupt da oben?«
Natascha erklärte es ihm, ohne jedoch auf ihre synästhetische Wahrnehmung einzugehen. Sie hatte Angst, dass es in seinen Augen zu abgedreht klänge und dass er sie für verrückt hielt. Das würde sie ihm irgendwann einmal erklären ... Vielleicht. »Dann werde ich eben allein mit dem Rad dorthin fahren«, sagte sie zum Schluss. »Ich bin in weniger als einer halben Stunde da oben, und für den Rückweg brauche ich noch weniger Zeit. Bevor es richtig dunkel wird, bin ich wieder zu Hause.«
»Warte doch einfach bis morgen und fahr mit Winterberg oder Lorenz dahin.«
Im Hintergrund hörte Natascha die typischen Geräusche einer Dartkneipe: Musik, elektronisches Piepen, Gläserklirren
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