Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
großen gelben Sonnenschirm gemütlich machten. Selbst an einem glühend heißen Sonntagmorgen wie diesem war fast niemand am Pool. Zwei Teenagermädchen schmorten in der Sonne, bis sie gar waren, und ein Mann mit langen weißen Beinen und nackten Füßen, den Kopf in einer Zeitung vergraben, saß ganz am anderen Ende.
Wie ein Kind, das zu lange zu Hause eingesperrt gewesen ist, riss Del sich das T-Shirt vom Leib, schleuderte es auf die Liege und machte am tiefen Ende des Pools eine Arschbombe ins Wasser. Als er wieder auftauchte und das Wasser aus seinen langen weißen Haaren schüttelte, kam er Beth vor wie Poseidon, der aus den Tiefen des Ozeans aufstieg.
»Komm schon!«, rief er, »das Wasser ist klasse!«
»Ein paar Minuten noch«, sagte Beth, lehnte den Kopf gegen die Liege und schloss die Augen. »Nur ein paar Minuten.« Doch als sie jetzt so in ihrem einteiligen Badeanzug dalag und die sanfte Brise über ihre nackten Beine strich, dachte sie, dass sie sich nie wieder bewegen wollte.
Die einzigen Geräusche waren das Rascheln der trockenen Blätter und Zweige im Canyon hinter ihr, und das gelegentliche Plätschern, als Del von einem Ende des Pools zum anderen paddelte. Sie legte eine Hand auf den Griff der Karre und rückte mit der anderen ihre Sonnenbrille zurecht. Wo Carter wohl gerade steckte? Irgendetwas hatte letzte Nacht seine Phantasie gewaltig angeregt, und sie wusste, dass er jetzt unterwegs war, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sie musste zugeben, dass sie genauso handeln würde, falls der geheime Brief des Schreibers es erforderlich machte.
Zum Glück war das nicht nötig. Auch die Übersetzung war fast fertig. Die Geschichte, die der Brief erzählte, war unglaublich. Ein Meister seines Fachs, der sein Handwerk in ganz Europa und auf den Britischen Inseln ausübte, nimmt am Ersten Kreuzzug teil, vermutlich, um nach einem Gewaltverbrechen der Verfolgung zu entgehen, und endet, zunächst als geschätzter Gast, dann als Gefangener eines arabischen Sultans. Allein in diesem Brief steckte genug Stoff, dass Beth mit den Forschungen und Abhandlungen darüber ein ganzes Buch füllen könnte, und natürlich war ihr dieser Gedanke bereits in den Sinn gekommen. Der Brief beschrieb die einmalige Pracht des Palastes, die endlosen Bankette, die von einem ganzen Heer Sklaven aufgetragen wurden; die marmornen Hallen und mit Mosaiken verzierten Böden der repräsentativen Räume; die Seidenvorhänge und kostbaren Wandbehänge, welche die Schlafräume schmückten; die Zucht weißer Hengste, die auf dem Reitplatz Rennen ausfochten; die wohlriechenden Gärten; die Thermalbäder; den kunstvoll angelegten Irrgarten. Alles geschaffen zur Erquickung des Sultans und seiner Günstlinge. Doch nichts von alldem interessierte sie so sehr wie die Kommentare, die der Künstler über sein Handwerk gemacht hatte.
Er schrieb, wie es kein Illustrator je zuvor getan hatte, über seine Kunst. Nicht nur über die Techniken, mit denen er seine Farben und Tinten herzustellen pflegte, wobei sie wünschte, er hätte mehr davon geschrieben. Doch vor allem begründete er seine Entscheidungen, die er in Bezug auf Komposition und Wiedergabe seiner Illustrationen getroffen hatte. Manchmal klang er überraschend wie ein Maler eines wesentlich späteren Jahrhunderts, besonders, wenn er erklärte, dass bei Edens wilde Tiere durchweg »nichts meiner Vorstellungskraft entsprang, sondern dass ich all meine Inspiration von den Wundern und Schrecken nahm, die ich mit meinen eigenen Augen erblickte.« Die Ausdruckskraft seiner Handschrift betonte dies noch zusätzlich. Er behauptete, er habe lediglich gemalt, was er gesehen habe, was einerseits spannend war, denn für einen Künstler des 11. Jahrhunderts war das ebenso kühn wie beispiellos. Gleichzeitig jedoch war es absurd. Man brauchte sich nur die Bilder anzusehen, um zu erkennen, dass es nicht der Wahrheit entsprach: gewaltige Vögel, die aus lodernden Scheiterhaufen aufstiegen, Löwen mit Flügeln, Rauch und Feuer spuckende Drachen.
Doch gerade die Unverfrorenheit dieser Behauptung, völlig unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, beeindruckte sie.
»Wow, das tut gut!«, sagte Del, als er aus dem Pool kletterte und sich schüttelte wie ein nasser Hund. Ein paar Tropfen landeten auf Beth’ Füßen und Beinen. »Du solltest es auch einmal versuchen.«
»Mache ich vielleicht wirklich.« Sie nahm die Sonnenbrille ab und legte sie unter ihre Liege auf den heißen Beton. Del stand in der
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