Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
direkt, aber vielleicht hat sie Handel getrieben, um sie zu bekommen.«
»Um Schmuck daraus zu machen?«
»Nein, die Frau war eher praktisch veranlagt. Sie hat Muscheln wie diese benutzt, um den heißen Teer aufzuschöpfen und ihn zu transportieren.«
»Wofür haben sie ihn benutzt?«
»Für alles Mögliche. Es ist ein guter Klebstoff, und wir haben auch Überreste früher Kanus gefunden. Teer diente dazu, sie wasserdicht zu machen.«
Carter schob die Schublade auf dem Tisch zur Seite und holte eine zweite. Sie war ebenso groß wie die erste, aber tiefer.
Tief genug, um den Schädel der Frau zu beinhalten.
Er merkte, wie beeindruckt Miranda war. Das war ein gutes Zeichen. Wenn man als Anthropologe oder Paläontologe arbeiten wollte, war es gut, das Staunen nicht zu verlernen. Die meisten Wissenschaftler, die er kannte, hatten diese Eigenschaft nie verloren. Egal, bei wie vielen Ausgrabungen sie dabei gewesen waren und wie viele Knochen oder Fossilien sie entdeckt hatten, es war immer wieder wunderbar und atemberaubend. Besonders, wenn es sich um die Knochen eines frühen Menschen handelte.
Der Schädel der La-Brea-Frau war klein. Nach heutigen Maßstäben war sie winzig gewesen, nicht einmal einen Meter fünfzig groß. Die Untersuchung der Knochen, basierend auf dem Schädel und etwa einem Dutzend weiterer Skelettfragmente, die man entdeckt hatte, hatten nicht viel über sie verraten. Die Beckenknochen ließen vermuten, dass sie bereits ein Kind geboren hatte. Doch es gab eine Sache, die vollkommen unstrittig war.
»Wieso hat dieser Fleck hier eine andere Farbe?«, wollte Miranda wissen und deutete auf einen Abschnitt am Schädeldach.
»Weil ihr Schädel zertrümmert wurde«, antwortete Carter.
Miranda schwieg und strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Wissen wir, wie?«
»Möglicherweise ist es während der Ausgrabung geschehen. Der linke Unterkiefer ist ebenfalls gebrochen.«
Miranda hörte etwas in Carters Stimme mitschwingen und sagte: »Aber das glaubst du nicht.«
»Nein.«
»Du glaubst, sie wurde … ermordet?« Es war merkwürdig, aber Miranda fragte sich unwillkürlich, ob ein Mensch ermordet werden konnte, bevor eine solche Tat überhaupt als Verbrechen angesehen wurde. Gab es irgendeinen anthropologischen Fachausdruck für das Töten eines prähistorischen Menschen?
»Ich glaube, sie wurde mit einem schweren, stumpfen Gegenstand niedergeschlagen«, sagte Carter. »Der andersfarbige Fleck auf dem Schädeldach ist Gips. Man hat damit den fehlenden Teil ihres Schädels ersetzt.«
Er blickte fest in die leeren Augenhöhlen und den klaffenden Kiefer. In der heutigen Welt wäre sie ein Teenager gewesen, doch in der uralten und gefährlichen Welt, in der sie lebte und starb, hatte die La-Brea-Frau bereits ein hohes Alter erreicht. Hatte man sie geopfert? Oder war sie bei einer kriegerischen Auseinandersetzung ums Leben gekommen? Auf jeden Fall war es ein natürliches Leben gewesen, nach der berühmten Formulierung von Thomas Hobbes, scheußlich, brutal und kurz.
Nur wenig anders, dachte Carter, war das Leben des La-Brea-Mannes verlaufen, der ihm aus der Tiefe der Pit 91 seine magere, einsame Hand entgegengestreckt hatte.
»Mir wird etwas kalt hier unten«, sagte Miranda und zitterte sichtlich.
Carter nickte. Er wusste, dass sie nicht nur allein auf die Temperatur reagierte. Er räumte die Proben fort und sagte: »Dann lass uns zurück in die Sonne gehen.«
Miranda nickte eifrig und klebte wie ein Welpe an Carters Seite, bis sie wieder im Atriumgarten waren, mit nichts als dem blauen Himmel und Palmwedeln über sich.
9. Kapitel
Als Beth in die lange private Zufahrtsstraße von Summit View einbog, hob sich ihre Stimmung. In ein paar Minuten würde sie ihren kleinen Joey wieder in den Armen halten.
Als sie den Job im Getty angenommen hatte, hatte sie klargestellt, dass sie nicht Vollzeit arbeiten konnte, dass sie erwartete, ihre Arbeit flexibel gestalten und ein oder zwei Tage in der Woche von zu Hause aus arbeiten zu können. Bis jetzt funktionierte das allerdings nicht so richtig. Mrs Cabot erwartete von ihr, dass sie fast die ganze Zeit im Getty Center verbrachte, und wann immer Beth nicht dort war, weil sie zum Beispiel einen Anruf von zu Hause bekommen hatte, klang Mrs Cabot ausgesprochen unerfreut.
Jetzt, wo sie für das al-Kalli-Projekt verantwortlich war, fürchtete Beth, dass es nur noch schlimmer werden würde.
Zu ihrer Überraschung sah Beth auf dem Weg zu
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