Knochenjagd (German Edition)
umformatierten Daten Bilder entlang verschiedener Ebenen zu erzeugen, und eben auch volumetrische – also dreidimensionale – Darstellungen.
Zuerst hatten wir uns die zweidimensionalen Bilder angeschaut, die, so Mrs. Tong, mithilfe von MPR , multiplanarer Rekonstruktion, erzeugt worden waren. Schnitt um Schnitt hatten wir uns vom Kopf des Fensterbankbabys zu den Zehen bewegt und Bilder interpretiert, die ein bisschen aussahen wie von Miró gemalt.
Wir hatten festgestellt, dass der Schädel aufgrund des Einbrechens beider Scheitelbeine deformiert war. Wir hatten gesehen, dass die Gehörgänge deutlich ausgebildet waren, dass die winzigen Knöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel – im Mittelohr vorhanden waren. Leclerc hatte uns die Schnecke und den Vorhof des Innenohrs gezeigt, das verzweigte Segment des Gesichtsnervenkanals, die Pyramidenbahn und andere anatomische Merkmale.
Ich hatte die pars squama und die pars basilaris des Hinterhauptsbeins und die Länge der Oberschenkel-und Schienbeinschäfte vermessen.
Wir waren alle einer Meinung. Der Fötus war voll ausgetragen.
»Jetzt dreidimensional?«, fragte Mrs. Tong.
»Ja«, sagte Leclerc.
»Diese Bilder werden mit der Volume-Rendering-Technik und im maximalen Intensitätsmodus erzeugt«, sagte Mrs. Tong.
Kein Miró mehr. Das Baby erschien in detailgenauen Abstufungen von Grau und Weiß, leicht geneigt, die winzigen Ärmchen v-förmig vor dem Körper wie Flügel.
Mit dem Finger deutete Leclerc auf das Offensichtliche. »Reste der Gehirnhälften, Kleinhirn, Varolsbrücke, das Nachhirn – Rückenmark.« Sein Finger bewegte sich vom Schädel zum Brustkorb. »Speiseröhre, Luftröhre, Lungenflügel. Das ist das Herz, die einzelnen Kammern kann ich allerdings nicht erkennen.« Er deutete auf den Bauch. »Da ist der Magen, die Leber. Die restlichen Organe sind nicht mehr zu erkennen.«
»Ist das ein Penis?« Pomiers Stimme klang heiser.
»Ja.«
»Ich sehe keine skelettalen Fehlbildungen oder Verletzungen«, sagte ich.
Leclerc und LaManche stimmten mir zu und unterhielten sich dann über einige anatomische Charakteristika.
Ich hörte nicht wirklich zu. Wie gebannt starrte ich auf einen strahlenundurchlässigen Fleck in der Luftröhre, der vom darüber liegenden, winzigen Unterkiefer zum Teil verdeckt wurde.
»Was ist denn das?«
7
LaManche nickte, als hätte ich eine Frage beantwortet, nicht gestellt. Offensichtlich hatte er es auch gesehen.
»Mir ist das vorher schon aufgefallen, und ich dachte, der Schatten ist ein Artefakt«, sagte Leclerc. »Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Können Sie diesen Bereich irgendwie noch deutlicher darstellen?«
Mrs. Tong schaltete wieder auf zweidimensionale Abbildung, und wir schauten uns den Hals des Babys scheibchenweise an. Es brachte nicht viel. Die strahlenundurchlässige Stelle schien sich in der Luft-oder der Speiseröhre zu befinden. Darüber hinaus war nicht mehr viel zu erkennen.
»Vielleicht Staub oder Sedimente, die im Verlauf der Verwesung durch den Mund eingedrungen sind«, meinte LaManche.
»Vielleicht.« Ich glaubte es nicht. Das Weiß des Flecks war intensiv, was auf einen Feststoff hindeutete.
Eine ganze Minute starrten wir alle den Monitor an. Dann traf ich eine Entscheidung. »Kann ich mir ein Skalpell und eine Zange leihen?«
»Natürlich.« Leclerc eilte davon, kam Augenblicke später zurück und gab mir die Instrumente.
Während die anderen zusahen, ging ich in den Röntgenraum zurück, zog Gummihandschuhe aus einem Spender und streifte sie über.
Verzeih mir, Kleiner.
Ich fixierte das Baby mit der linken Hand und zog mit der rechten die Skalpellklinge über den verschrumpelten Hals.
Das papierene Gewebe sprang mit einem leise platzenden Geräusch auf. Ich legte das Skalpell weg und schob die Zange in die Öffnung. Nach etwa zwei Zentimetern traf sie auf Widerstand.
Ich öffnete die Zange, schloss sie wieder und zog sanft. Das Objekt rührte sich nicht.
Kaum atmend, öffnete ich die Zange weiter, schob sie tiefer hinein und zog noch einmal.
Der Fremdkörper löste sich von der Luftröhrenwand und rutschte mit einem trocken kratzenden Geräusch nach oben. Millimeter um Millimeter zog ich ihn vorsichtig durch den Schnitt und ließ ihn auf meine Handfläche fallen.
Schmutzig weiß. Gazeartig und zerknüllt.
Ich zupfte mit der Zange an einem Ende. Eine filmige Schicht hob sich ab und zeigte eine Perforierung.
Heilige Maria Mutter Gottes.
In meinem Hirn blitzte ein
Weitere Kostenlose Bücher