Knochenjagd (German Edition)
Bild auf, zu entsetzlich, um es sich auszumalen.
Einen Augenblick lang konnte ich nur dastehen, kämpfte gegen das Eis in meiner Brust und das Brennen hinter meinen Lidern an.
Als ich die Fassung wiedergefunden hatte, schaute ich noch einmal auf das Baby hinunter.
Es tut mir so leid. So sehr, sehr leid .
Ein tiefer Atemzug, dann kehrte ich zu den anderen hinter der Scheibe zurück.
Wortlos öffnete ich die Hand und zeigte ihnen das grässliche Ding. Alle starrten bestürzt.
LaManche fand die Sprache als Erster wieder. »Zusammengeknülltes Toilettenpapier.«
Ich konnte nur nicken.
»Dem Kind in die Kehle geschoben, um die Atmung zu blockieren.«
»Oder es vom Weinen abzuhalten.«
Das war zu viel für Mrs. Tong. Sie fing an zu weinen. Kein heftiges, blubberndes Schluchzen, sondern ein leises Wimmern, fast wie ein Schluckauf. Während die anderen nur dastanden, legte ich ihr die Hand auf die Schulter.
Sie drehte den Kopf und schaute mich an. »Jemand hat diesen kleinen Engel mit Absicht getötet?«
Mein Blick war Antwort genug.
Mit leiser und sachlicher Stimme sagte ich zu LaManche: »Detective Ryan wird das wissen wollen.«
»Ja. Bitte geben Sie diese Information an ihn weiter.«
Während ich durch die Tür eilte, fragte Leclerc Mrs. Tong, ob sie nach Hause gehen wolle.
»Im Leben nicht.«
Der Gang war verlassen. Ich ignorierte das Handyverbot im Krankenhaus und blätterte zu Ryans Privatnummer in meinem iPhone. Sein Handy tutete und schaltete dann auf Voice-mail.
Verdammt.
Ich hinterließ eine Nachricht. »Ruf mich zurück. Es ist wichtig.«
Ich schaute auf meine Uhr. Zehn nach elf.
Ich ging zum Ende des Gangs. Das Krankenhaus war eine Geisterstadt.
Ich kehrte in den Untersuchungsraum zurück. Schaute noch einmal auf die Uhr.
Vierzehn nach elf.
Wo zum Teufel steckte er?
Ich wollte schon aufgeben, als Ryan endlich zurückrief. Ich kam sofort zur Sache. »Mindestens zwei der Babys waren voll ausgetragen. Vom dritten wissen wir es in Kürze.«
»Irgendwelche medizinischen Probleme?«
»Nein. Das Baby aus der Fensterbank ist ein Junge.« Dann erzählte ich ihm von dem zerknüllten Toilettenpapier.
Einen langen Augenblick hörte ich nur Hintergrundgeräusche in der Leitung. Stimmen. Das Klirren von Gläsern.
»Ist das alles?« Kurz angebunden. Ryan hatte ebenso mit seinen Gefühlen zu kämpfen wie ich.
»Wir scannen jetzt das Baby aus dem Toilettentisch.«
Ich wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine.
»Irgendwas Neues bei dir?«
»Trees hat das Polizeifoto identifiziert. Der Notarzt und der Vermieter ebenfalls. Die Frau im Krankenhaus war Ruben, und Ruben hat auch in der Wohnung in Saint-Hyacinthe gelebt. Paxton sagt –«
»Der Hausbesitzer.«
»Ja. Paxton sagt jetzt, dass er ursprünglich an Smith vermietet hätte. Dann war Smith plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Aber solange Rogers brav die Kohle abgeliefert hat, brauchte er keine Fragen zu stellen.«
»Was Neues aus Edmonton?«
»Der RCMP -Beamte, mit dem ich heute Morgen gesprochen habe, kommt heute Nacht in Montreal an. Wir treffen uns morgen früh.«
Normalerweise hätte Ryan mich zu diesem Treffen eingeladen. Es war ja auch mein Fall. Er tat es nicht.
»Wann?«, fragte ich.
»Um acht.«
»Ich versuche, vorbeizukommen.«
Im Röntgenraum war der Scan von LSJML -49276 bereits abgeschlossen, und alle standen wieder vor dem Computer. Mrs. Tongs Augen sahen verquollen aus, das Gesicht war nach dem Weinen fleckig.
Das Bild auf dem Monitor war in 2-D, ein Achsenschnitt in Brusthöhe. Leclerc redete. »In den großen Bronchien und in der Speiseröhre ist Luft vorhanden. Beide Lungenflügel scheinen belüftet zu sein.«
Mrs. Tong tippte etwas, um Darstellungen des Bauchraums auf den Bildschirm zu holen.
Leclerc führte seinen Monolog fort. »Luft im Bauch.«
»Das Baby hat also geatmet und geschluckt«, sagte Pomier.
»Vielleicht.« LaManches hängende Augen wirkten müde in seinem schlaffen Gesicht. »Luft kann auch aufgrund der Verwesung vorhanden sein. Bei der Autopsie werden wir Proben für einen toxikologischen Test entnehmen.«
LaManche musste das nicht ausführen. Ich wusste, dass eingeatmete Luft hohe Anteile von Stickstoff und ein wenig Sauerstoff enthalten würde, während das bei der Verwesung entstandene Gas vorwiegend aus Methan bestehen würde.
Ich wusste auch, dass bei der Entfernung des Brustkorbs nach dem Y-Schnitt ein Aufblähen des Lungenparenchyms auf Luft in den Flügeln hindeuten würde.
Weitere Kostenlose Bücher