Knochenjagd (German Edition)
augenblickliche Übellaunigkeit wirkte anders. Als ginge es um mehr als mich. Um mehr als tote Babys.
Sei’s drum. Er würde es mir schon sagen, wenn er so weit war. Oder auch nicht.
Während ich mich umzog, beschloss ich, daheim zu Abend zu essen, bevor ich ins St. Mary’s fuhr.
Dann fiel es mir wieder ein.
»Verdammt.«
Ich hasse es, Lebensmittel einzukaufen. Irrational, aber so ist es eben. Jede Ausrede ist mir recht, um nicht in den Supermarkt gehen zu müssen. Und dann bezahle ich dafür. Wie heute Abend. Seit meiner Ankunft in Montreal vor zwei Tagen hatte ich noch keine Lebensmittel eingekauft.
Während ich meine verschmutzte Kluft in einen Sondermüllcontainer warf, drehte ein weiterer Gedanke an meinem Melancholieregler.
Bei meinem Abflug aus Charlotte erholte sich Birdie eben von einer Harnröhreninfektion. Da ich wusste, dass er Fliegen hasste, und das Gefühl hatte, dass die Reise seiner schwachen Blase nicht guttun könnte, hatte ich ihn in Dixie gelassen. Der Kater hatte nicht im Geringsten protestiert.
Tiefkühl-Abendessen. Allein.
Während ich den Korridor entlangging, sackte meine Stimmung vollends in die Tiefe. Ich überlegte eben, ob ich mir aus einem Restaurant etwas mitnehmen sollte, als ich durchs Fenster eine Gestalt in meinem Büro bemerkte.
Ich erstarrte. Dann erkannte ich ihn.
Ryan. Der Ziffern in sein Handy tippte.
Um halb sieben? Was sollte das?
Ryan drehte sich um, als ich durch die Tür trat. Bevor ich den Mund aufmachen konnte, sagte er: »Wir haben sie.«
»Amy Roberts und so weiter?«
Ryan nickte.
»Und?«
»Du wirst es nicht glauben.«
6
»Ihr wirklicher Name ist Annaliese Ruben. Sie wurde zweimal wegen Prostitution aufgegriffen, einmal 2005, dann noch mal 2008. Beide Verhaftungen fanden in Edmonton statt. Beim ersten Mal bekam sie Bewährung. Beim zweiten Mal erschien sie nicht zu ihrem Gerichtstermin.«
Ryan gab mir drei Ausdrucke.
Der erste war ein Treffer bei der Fingerabdrucksuche. Ich überblätterte den Teil mit den Übereinstimmungen und las nur die körperliche Beschreibung. Annaliese Ruben hatte schwarze Haare, braune Augen, war eins zweiundfünfzig groß und wog achtundachtzig Kilo.
Der zweite Ausdruck war Rubens Vorstrafenregister. Der dritte zeigte ihr neuestes Polizeifoto, das man mithilfe ihrer Kennnummer im Fingerabdrucksystem zutage gefördert hatte. Es zeigte eine Frau mit einem Vollmondgesicht und wirren, dunklen Haaren, die dringend einen Friseur nötig hatten.
Ich gab ihm die Blätter zurück. »Könnte eine Schilddrüsenüberfunktion haben.«
»Ach ja?«
»Die Glupschaugen. Könnte aber auch die Beleuchtung sein. Verbrecherfotos zeigen ja nicht gerade die Schokoladenseite.«
»Die Polizei von Edmonton sagt, dass die Adresse, die Ruben nach ihrer zweiten Verhaftung angegeben hatte, sich als verlassenes Lagerhaus erwies. Seit 2008 hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihr, und sie weiß auch nichts über ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort.«
Ryan steckte sein iPhone in die Tasche und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Bewegungen wirkten steif, Schultern und Kiefermuskulatur angespannt. Vertraute Zeichen. Der Fall machte ihm zu schaffen.
Aber da war noch mehr. Eine Härte in Ryans Augen, die ich zuvor noch nicht gesehen hatte.
Ich wollte ihn fragen, ob etwas los sei, sagen, dass ich da sei, wenn er reden wolle. Ich tat es nicht. Wartete einfach.
»Kennst du das Project KARE ?« Ryan buchstabierte das Akronym.
»Ist das nicht eine Sondereinheit der RCMP, die eingerichtet wurde, um Tod und Verschwinden von Frauen in und um Edmonton zu untersuchen? Soweit ich weiß, hat es eine ganze Reihe solcher Fälle gegeben.«
»Das ist eine Untertreibung. Aber im Wesentlichen hast du recht. Sie hat den Auftrag, Verbrecher zu fangen, die für HRMP -Morde verantwortlich sind.«
»High-risk missing persons.« Personen also, die aus einem hochriskanten Umfeld verschwunden waren.
»Ja.« Ryan bemühte sich um eine neutrale Klangfarbe in seiner Stimme.
»Hauptsächlich also solche, die mit Prostitution und Drogen zu tun haben?« Ich ahnte, wohin das führen würde.
»Ja.«
»Annaliese Ruben steht auf der Liste des Project KARE ?«
»Seit 2009.«
»Wer hat sie als vermisst gemeldet?«
»Eine andere Prosituierte.«
Das überraschte mich. »Sexarbeiterinnen machen doch normalerweise einen Bogen um Polizisten.«
»Wie wahr. Aber die Nutten in Edmonton haben wirklich eine Heidenangst.«
»Wurde denn nicht jemand für diese Morde
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