Knochenjagd (German Edition)
Geschichte mit mir der Grund dafür, dass Ryan zurzeit so kühl war? Lächerlich. Die Sache war eine mehr oder weniger einmalige Episode gewesen, und zu der Zeit, als ich nach Montreal kam, bereits ein uralter Hut. Und Ryan und ich hatten vor über einem Jahr den Stöpsel aus unserer Beziehung gezogen. Er konnte doch nicht so kindisch sein, mir ein Abenteuer vorzuwerfen, das schon lange vorbei war, als wir uns kennenlernten. Oder doch? Außerdem, wenn er es wusste, hätte er es erst vor Kurzem erfahren, und die Eisbergnummer zog er schon länger durch.
»Legen wir los«, sagte Ollie.
»Wie wär’s, wenn Sie damit anfangen, warum Sie hier sind«, sagte Ryan.
»Aus zwei Gründen. Erstens besteht noch ein Haftbefehl für Ruben. Sie sagen, sie ist hier in Quebec. Zweitens ist Ruben eine Hochrisikoperson, die in meinem Zuständigkeits-bereich verschwunden ist. Als Mitglied der Sondereinheit des Project KARE habe ich allen Hinweisen auf Vermisste nachzugehen, die diesem Profil entsprechen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete Ollie die Messingschließen seines Aktenkoffers, zog einen Ordner heraus und schlug ihn auf. Ich sah, dass der Ordner nur zwei magere Seiten enthielt.
Ein bestürzender Gedanke. War Annaliese Rubens Verschwinden überhaupt untersucht worden? Hatte man es ernst genommen?
»Die Vermisstenanzeige stammte von einer Person, die einfach in unser Revier marschiert kam«, setzte Ollie an. »Susan Forex, Straßenname Foxy.«
»Merkwürdiges Verhalten für eine Prostituierte.«
»Foxy ist ein merkwürdiges Mädchen.«
»Sie kennen sie?«
»O ja. Dass Foxy sich meldete, war nicht ganz so merkwürdig. Die Damen in Edmonton habe alle eine Mordsangst.«
»Teufel oder Beelzebub. Entweder die Polizei oder ein Durchgeknallter.«
Ollie nickte. »Ein Frischling namens Gerard nahm Forex’ Aussage auf. Forex behauptete, Ruben hätte in ihrem Haus ein Zimmer gehabt. Laut dem schriftlichen Protokoll hätte Ruben einen Termin mit einem Kunden gehabt, den sie als sehr spendierfreudig beschrieb. Der Treffpunkt sollte das Days Inn in der Innenstadt sein.«
Ollie zitierte die relevanten Informationen aus der Akte.
»Ruben kam nie mehr nach Hause. Nach vier Monaten beschloss Foxy, ihr Verschwinden zu melden.«
»Hat eine ganze Weile gedauert, bis sie sich Sorgen gemacht hat«, sagte Ryan.
»Wie lange wohnten die beiden zusammen?«, fragte ich.
»Ein halbes Jahr vielleicht.«
»Ist irgendjemand der Sache nachgegangen?«
»Da gab’s nicht viel nachzugehen. Die Leute von der Straße wechseln ihre Adressen wie wir die Socken. Und die meisten halten bei der Polizei den Mund. Eine Prostituierte namens Monique Santofer lebte zu der Zeit ebenfalls bei Forex. Beide wurden befragt, und ein paar andere auch noch. Keine wusste irgendwas.«
Ryan und ich sagten nichts. Wir kannten beide die Realität.
Nach diesen Befragungen hatte die Akte wahrscheinlich im Büro der Detectives die Runde gemacht, doch bei keinem hatten irgendwelche Alarmglocken geklingelt. Von dort aus war sie an eine zentralisierte Vermisstenabteilung gegangen, in der viel zu wenige Detectives für die unglaublich große Zahl von Personen verantwortlich waren, die jedes Jahr verschwanden. Schließlich lag sie begraben in einem Stapel ähnlicher Akten.
Aber glücklicherweise hatte sie irgendwie den Weg ins Project KARE gefunden.
»Was glauben Sie, warum Forex sich die Mühe gemacht hat?«
»Edmonton ist für diese Frauen ein Schlachtfeld. Viele sind so verängstigt, dass sie freiwillig DNS -Proben abgehen, damit ihre Leichen identifiziert werden können, wenn sie ermordet werden.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Seit 1983 wurden mindestens zwanzig Frauen ermordet. Und noch mehr sind verschwunden, vielleicht tot. Und Sie wissen, dass dieses Arschloch Pickton immer noch in den Köpfen der Leute herumspukt.«
Ollie meinte Robert William »Willie« Pickton, einen Schweinefarmer aus Port Coquitlam, British Columbia, der für den Mord an sechs Frauen verurteilt wurde und dem noch zwanzig weitere zur Last gelegt wurden. Viele von Picktons Opfern waren Prostituierte und Drogensüchtige aus dem Ostteil Vancouvers gewesen.
Ich hatte den Fall nicht bearbeitet, Kollegen allerdings schon. Die Ausgrabungen hatten 2002 begonnen, nachdem auf Picktons Grundstück Überreste entdeckt worden waren. Die Medien drehten völlig durch, und das Gericht verhängte eine absolute Nachrichtensperre. Die Gerüchteküche brodelte. Angeblich waren die Leichen
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