Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Patricia Eduardo verschwand. Gut zwei Monate lagen zwischen dem Verschwinden von Patricia Eduardo und Lucy Gerardi. Chantale Specter verschwand zehn Tage nach Lucy Gerardi.
Wenn ein einziger Verrückter dafür verantwortlich war, wurden die Intervalle immer kürzer.
Seine Blutgier wurde immer stärker.
Ich holte mein Handy heraus und tippte Galianos Nummer. Bevor ich auf Senden drücken konnte, klingelte das Gerät in meiner Hand. Es war Mateo Reyes.
Molly Carraway war wieder bei Bewusstsein.
13
Kurz nach Tagesanbruch rasten Mateo und ich auf der hügeligen Teerstraße nach Sololá, durch rosafarbenes, streifiges Sonnenlicht auf den Kuppen und durch Nebel in den Senken. Die Luft war kühl, der Horizont von einem feuchten Morgendunst verhüllt. Mateo holte, mit ausdruckslosem Gesicht, die Hände fest am Lenkrad, alles aus dem Jeep heraus.
Ich saß auf dem Beifahrersitz und streckte den Ellbogen zum Fenster hinaus wie ein Lastwagenfahrer in Tuscon. Der Fahrtwind wirbelte mir die Haare ins Gesicht. Abwesend wischte ich sie weg, denn in Gedanken war ich bei Molly und Carlos.
Carlos hatte ich nur ein- oder zweimal gesehen, doch Molly kannte ich bereits seit einem Jahrzehnt. Sie war ungefähr in meinem Alter und als Anthropologin eine Spätberufene. Als High-School-Lehrerin für Biologie, die keine Lust mehr hatte auf Cafeteria-Aufsicht und Toilettenkontrollen, hatte Molly mit einunddreißig noch einmal die Richtung geändert und war an die Universität zurückgekehrt. Nach ihrer Dissertation in Bio-Archäologie hatte sie eine Stellung in der Anthropologischen Fakultät der University of Minnesota angenommen.
An die Gräber von Toten war Molly dann wie auch ich von Polizisten und Leichenbeschauern gerufen worden, die den Unterschied zwischen biologischer und forensischer Anthropologie nicht kannten. Wie ich widmete sie einen Teil ihrer Zeit der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen.
Im Gegensatz zu mir hatte Molly die Arbeit an uralten Toten nie aufgegeben. Obwohl sie einige gerichtsmedizinische Fälle bearbeitete, blieb sie der Archäologie treu. Es fehlte ihr auch noch die amtliche Zulassung durch das American Board of Forensic Anthropology.
Aber die wirst du bekommen, Molly. Ganz sicher.
Mateo und ich spulten die Meilen schweigend ab. Der Verkehr wurde lichter, als wir Guatemala City hinter uns ließen, und dann wieder stärker, als wir uns Sololá näherten. Wir rasten vorbei an tiefgrünen Tälern, gelben Weiden, auf denen schmuddelige braune Kühe grasten, und Dörfern, in denen Horden von Straßenhändlern die Ware dieses Morgens auslegten.
Nach neunzig Minuten sagte Mateo zum ersten Mal etwas.
»Der Arzt sagte, sie sei aufgeregt gewesen.«
»Wenn du die Augen aufschlägst und merkst, dass dir zwei Wochen deines Lebens fehlen, wärst du auch aufgeregt.«
Wir flogen um eine Kurve. Zwei Fahrzeuge fuhren auf der Gegenfahrbahn an uns vorbei und bliesen Luft durch unsere geöffneten Fenster.
»Vielleicht ist es das.«
»Vielleicht?« Ich sah ihn an.
»Ich weiß auch nicht. Da war irgendwas in der Stimme dieses Arztes.«
Er fuhr dicht auf einen langsamen Lastwagen auf, schaltete zurück und überholte.
»Was?«
Er zuckte die Achseln. »Es war eher der Tonfall.«
»Was hat er dir sonst noch gesagt?«
»Nicht viel.«
»Bleiben permanente Schäden?«
»Er weiß es nicht. Oder will es nicht sagen.«
»Ist irgendjemand aus Minnesota gekommen?«
»Ihr Vater. Ist sie denn nicht verheiratet?«
»Geschieden. Ihre Kinder sind auf der High School.«
Den Rest der Strecke fuhr Mateo schweigend, Wind blähte sein Jeanshemd auf, und in seiner dunklen Sonnenbrille spiegelten sich die gelben Mittelstreifen der Straße.
Das Krankenhaus von Sololá war ein sechsstöckiges Gewirr aus Backstein und schmutzigem Glas. Mateo hielt in einer von mehreren kleinen Parkbuchten, und wir gingen auf einem von Bäumen beschatteten Weg zum Haupteingang. Auf dem Vorplatz begrüßte uns ein Betonjesus mit ausgebreiteten Armen.
Die Halle war voller Menschen, die herumschlenderten, beteten, Limonade tranken, auf Holzbänken lümmelten oder nervös herumrutschten. Einige trugen Hauskleider, andere Anzüge oder Jeans, die meisten aber die für Sololá typische Maya-Tracht. Frauen in gestreiftem rotem Tuch, ihre Babys auf den Rücken oder vor den Bauch gebunden. Männer in Wollponchos, Gaucho-Hüten und reich bestickten Hemden und Hosen. Hin und wieder schob sich ein Krankenhausangestellter in gestärktem Weiß durch die
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