Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
vertraute Szene.
Wie auch das Verfahren, das nun begann. Das Stochern und Schaben, das Messen und Wiegen, das Abnehmen von Gewebe, das Sägen von Knochen. Die erbarmungslose Bloßlegung würde eine letzte Entehrung werden, ein Angriff nach dem Tod, der alles übertraf, was sie am Ende ihres Lebens vielleicht hatte erleiden müssen.
Ein Teil von mir wollte sie bedecken, sie von diesen sterilen Fremden weg und in die Obhut derjenigen schaffen, die sie geliebt hatten. Ihrer Familie gestatten, das, was von ihr noch geblieben war, zur Ruhe zu betten.
Aber die rationale Tempe in mir besann sich eines Besseren. Dieses Opfer brauchte einen Namen. Nur dann konnte die Familie sie bestatten. Ihre Knochen verdienten eine Chance zu sprechen, stumm zu schreien über die Ereignisse ihrer letzten Stunden. Nur dann konnte die Polizei versuchen zu rekonstruieren, was mit ihr geschehen war.
Also versammelten wir uns mit unseren Formularen, unseren Klingen, unseren Linealen, unseren Greifzirkeln, unseren Notizbüchern, unseren Probengläsern, unseren Kameras.
Fereira stimmte mit mir in meiner Schätzung von Alter, Geschlecht und Rasse überein. Wie ich fand sie keine frischen Brüche oder andere Hinweise auf Gewalteinwirkung. Gemeinsam maßen und berechneten wir die Statur. Gemeinsam entnahmen wir Knochenproben für eine eventuelle DNS-Analyse. Es war nicht notwendig.
Neunzig Minuten nach Beginn der Autopsie traf Hernández mit Claudia de la Aldas zahnärztlichen Unterlagen ein. Schon ein Blick sagte uns, wer da auf dem Tisch lag.
Kurz nachdem Galiano und sein Partner gegangen waren, um der Familie de la Alda die Nachricht zu überbringen, ging die Tür noch einmal auf. Herein kam ein Mann, den ich vom Paraíso als Dr. Hector Lucas kannte. Sein Gesicht wirkte in dem grellen Licht grau. Er begrüßte Fereira und bat sie dann, den Raum zu verlassen.
Überraschung blitzte in den Augen über ihrer Maske auf. Oder Wut. Oder Groll.
»Natürlich, Doktor.«
Sie zog ihre Handschuhe aus, warf sie in einen Biomüll-Container und ging. Lucas wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war.
»Sie haben zwei Stunden für das Paraíso-Skelett.«
»Das reicht nicht.«
»Es muss. Vor vier Tagen wurden bei einem Busunfall siebzehn Menschen getötet. Seitdem sind noch drei gestorben. Mein Personal und meine Einrichtungen sind überlastet.«
Auch wenn ich mit den Unfallopfern und ihren Familien fühlte, war meine Sympathie für die schwangere junge Frau, deren Überreste entsorgt worden waren wie der Müll der letzten Woche, doch stärker.
»Ich brauche keinen Autopsieraum. Ich kann überall arbeiten.«
»Nein. Das dürfen Sie nicht.«
»Auf wessen Anordnung hin bin ich auf zwei Stunden beschränkt?«
»Das Büro des Bezirksstaatsanwalts. Señor Díaz ist weiterhin der Überzeugung, dass fremde Hilfe nicht nötig ist.«
»Fremd in welcher Sache?«, fragte ich in einer plötzlichen Aufwallung von Zorn.
»Was wollen Sie damit andeuten?«
Ich atmete tief ein und wieder aus. Ganz ruhig.
»Ich will gar nichts andeuten. Ich versuche nur zu helfen und verstehe nicht, warum der Staatsanwalt mich daran hindern will.«
»Tut mir Leid, Dr. Brennan. Das ist nicht meine Entscheidung.« Er gab mir einen Zettel. »Die Knochen werden in diesen Raum gebracht, wann Sie es wünschen. Rufen Sie diese Nummer an.«
»Das ergibt doch alles keinen Sinn. Ich bekomme uneingeschränkten Zugang zu den Überresten aus Kaminjuyú, werde aber von denen, die wir am Paraíso gefunden haben, so gut wie ausgesperrt. Was befürchtet Señor Díaz denn, dass ich finden könnte?«
»So sind die Vorschriften, Dr. Brennan. Und noch etwas. Sie dürfen nichts entfernen oder fotografieren.«
»Dann klafft aber eine Lücke in meiner Souvenirsammlung«, blaffte ich. Wie Díaz brachte auch Lucas meine schlechteste Seite zum Vorschein.
»Buenos días.«
Lucas stakste hölzern aus dem Raum.
Sekunden später kehrte Fereira zurück. Sie roch nach Rauch, an ihrer Unterlippe klebte ein Papierfitzelchen.
»Eine Audienz bei Hector Lucas. Ihr Glückstag.« Obwohl wir während der gesamten Autopsie Spanisch gesprochen hatten, sprach sie jetzt Englisch. Es klang texanisch.
»Ja.«
Fereira stützte die Ellbogen auf die Arbeitsfläche, lehnte sich zurück und legte die Füße an den Knöcheln übereinander. Sie hatte graue, sehr kurz geschnittene Haare, Augenbrauen wie Pete Sampras über dunkelbraunen Augen und einen Körper wie ein Kühlschrank.
»Er wirkt vielleicht wie ein
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