Köhler, Manfred
nachgedacht zu haben schien und wie wenig ihr Sarah auch Anstoß gegeben hatte darüber nachzudenken, ob dieser Herr Sahm tatsächlich nur gut Freund mit ihrer Nichte sein wollte. Das hätte ihn in anderer Gefühlslage geärgert, aber Ärger lag ihm jetzt fern. Er dachte daran, wie es sein würde, das nächste Mal den Guttlerschen Brautmodenladen zu betreten oder auch nur daran vorbeifahren zu müssen. Für drei Wochen war dieser Laden für ihn der Ort gewesen, an dem er Sarah finden konnte, an dem ihr Licht strahlte; jetzt war das Geschäft ein Schwarzes Loch, das sie verschlungen hatte, in jeder Ecke würde sie ihm fehlen. Für lange Zeit, wenn ihm nun der Laden in den Sinn käme, würde er für eine Sekunde freudig an sie denken – und dann bitter erkennen, dass sie da nie wieder sein würde.
Diesen Gedanken lotete er aus, er passte zu seinem Roman-Thema: die Wirkung von Orten auf das Innenleben von Menschen. Statt den Baum zu schmücken ging er hinauf in sein Arbeitszimmer und tröstete sich damit, dass er nun endlich wieder genug Zeit hatte für seine Geschichte.
Kapitel 4: Degradierung
In der Woche nach Neujahr gelang endlich das Interview mit Rosa Guttler. Sie hieß ihn auf dem schmalen Eckbänkchen im hintersten Ladenwinkel Platz zu nehmen und drängte sich gerafften Rockes neben ihn. Lothar Sahm erfuhr nun, worin der Unterschied zwischen der alten und der neuen Brautmodenkollektion bestand.
„In den Farben, Herr Sahm, und in den Details. Die Braut von heute trägt schlichte Kleider in Champagner, keine Pailletten, kaum Spitze, und die Farbe Weiß ist out.“
Kein Wort von Sarah, und Lothar Sahm war froh, dass er nicht in der Lage war, sie an ihr Versprechen erinnern zu müssen, ihm die Adresse zu geben. Sarah hatte sie ihm inzwischen selbst mitgeteilt, sie hatte ihm eine lange Mail geschrieben. Ihre Erklärung für ihre überstürze Abreise hatte zwar am Rande mit Heimweh und Weihnachten zu tun; als Hauptgrund aber nannte sie die Tante. Die paar Stunden mit ihm seien ihre einzig freie Zeit in Deutschland gewesen, und selbst diese Stunden seien ihr als Bummelei vorgehalten worden. Von morgens bis abends putzen und Kleider bügeln, so habe ihr Leben in Wallfeld ausgesehen. Dabei sei sie doch gekommen, um möglichst viel von Deutschland zu sehen und die Menschen kennenzulernen! Sie bat ihn, ihr nicht böse zu sein und schnell zu antworten. Ein Foto war im Anhang: strahlende Sarah in festlicher Bluse, dezent geschminkt, die Haare hochgesteckt, stand neben ihrem Nikolaus-Strumpf am Kamin. In einem zweiten Anhang fand er den Scan eines handgeschriebenen Grußes, in ihrer verschnörkelten Schrift war zu lesen: dieses Weihnacht, american brauchtum, für meine freund Lothar Sam.
Er war gerührt. In einem viel zu großen Karton, gepolstert mit einer Wochenladung zerknüllter Ausgaben der Wallfelder Rundschau, verpackte er das Wetterhäuschen, das bis dahin unter dem heftig nadelnden Weihnachtsbaum gestanden und das Wetter nicht mal falsch, sondern überhaupt nicht angezeigt hatte; er schrieb, dass es nach Weihnachten getaut und seitdem nicht mehr geschneit habe, dass die Hochzeitsbeilage nun bald erscheine, auf einem Bild sei sie zu erkennen, er werde ihr die Zeitung schnellstmöglich schicken.
Die Beilage erschien, er schickte sie ihr umgehend, sie schrieb zurück, diesmal per Brief, bedankte sich für das tolle Geschenk, what a surprise, an authentic german house, es stehe auf einem Ehrenplatz neben ihrem Bett, thanx a lot auch für die Beilage, sie sei sehr gelungen. Er schrieb ihr zurück, sie schrieb ihm zurück. Bei diesem Brief- und Mailwechsel fühlte er sich ihr näher als in den drei Wochen ihrer von ihm miterlebten Anwesenheit. Er wusste sich ihrer Zuneigung sicher, das war ihm wichtiger als alles andere, er stürzte sich in die Arbeit. Seine ursprüngliche weibliche Hauptfigur hatte er ganz aus der Geschichte geschmissen, die Story drehte sich nun ausschließlich um eine in ihre Heimat zurückgekehrte Amerikanerin, die lieber Briefe schrieb als Mails, und einen verliebten Deutschen, der ihr irgendwann nachreist und auf Dauer bleiben will.
Lothar Sahm hatte noch nicht entschieden, wie die Geschichte ausgehen sollte. Nichtsdestotrotz war er bereits über der Ausarbeitung. Die Rahmenhandlung hatte sich hinreichend verdichtet und war in sich stimmig genug, die Geschichte niederzuschreiben; allerdings stolperte er über die Details. Er war noch nie in Amerika gewesen. Wie war es dort wirklich? Wie
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