Köhler, Manfred
Satzfetzen wie „...Missachtung des Auftrags unserer Zeitung...“, „...hinterhältiger Dolchstoß in die Rücken all derer, die sich um unser Blatt verdient gemacht haben...“ oder „...besonders verwerflicher geistiger Defätismus...“, was Lothar Sahm in doppelter Weise als Einschätzung missglückt fand.
Als sein Chef sich halbwegs beruhigt hatte, erlaubte er sich zu bemerken, dass der Text zum einen noch gar nicht erschienen war und dass es, zum anderen, gerade das Wesen der Glosse sei, in ironisierender Form zu überspitzen. Das brachte den Geschäftsführer erst recht auf die Palme, er schrie seinem Redakteur durch den Hörer ins Ohr, dass man ja wohl nur überspitzen könne, was in Ansätzen schon vorhanden sei, was nichts anderes bedeute, als dass er eben sehr wohl am Bildungsauftrag der Wallfelder Rundschau zweifle. „Man glaubt es kaum, haben Sie geschrieben, man glaubt es kaum!“, brüllte Crähenberger. Überhaupt, der ganze Text triefe vor Spott und Hohn auf diese unsere Zeitung, die wackere Männer nach dem Krieg aus dem Nichts geschaffen hätten, das solle ein Herr Sahm erst mal nachmachen, bevor er sich derartige Ergüsse erlauben könne. Und so weiter.
Lothar Sahm fand es mehr als fragwürdig, dass Crähenberger unter Hunderten von Dateien gleich am nächsten Tag zufällig auf diese eine gestoßen sein wollte. Ihm fiel ein, dass er die Czibull schon dabei überrascht hatte, wie sie in fremden Artikeln herumgestöbert und sogar ungefragt und heimlich Änderungen vorgenommen hatte. So beschloss Lothar Sahm eine kostenintensive Gegenmaßnahme: Er kaufte sich einen Laptop, damit seine Artikel nicht länger im Computernetzwerk herumgeisterten und für jedermann einzusehen waren. Erst kurz vor der Veröffentlichung würde er sie künftig ins System geben. Dass seine schöne Egolf-Glosse nun nicht erscheinen würde, hatte ihn mehr getroffen als der Anschiss des Geschäftsführers; wäre sie erschienen, hätte das Donnerwetter nicht fürchterlicher ausfallen können.
Sich mit allen Facetten der Funktionsweise seines neuen Lieblingsspielzeugs vertraut zu machen, kostete Lothar Sahm so viel Zeit, dass seine Romanidee liegenblieb und fast in Vergessenheit geriet. Hinzu kamen die vielen selbstauferlegten Weihnachtstermine, die er zwar von Herzen genoss, weil er Sarah damit Freude bereitete: Sie konnte gar nicht genug kriegen von deutschem „Brauchtum“, ein Wort, dass er ihr vorsätzlich eingepaukt hatte, weil sie es so niedlich aussprach, so besonders amerikanisch; aber natürlich musste er diese Termine danach auch zu Artikeln verarbeiten, ein nicht unbeträchtliches Zusatzprogramm in den ohnehin ausgefüllten Vorweihnachtswochen, dazu noch Mandys Nachtdienste im Tausch gegen den OB-Umtrunk...
Kopfzerbrechen und Zeitaufwand bedeutete es auch, ein passendes Weihnachtsgeschenk für Sarah zu finden. Natürlich musste es irgendwas mit „Brauchtum“ sein, und wenn es nach Sarah ging, hätte es auch gar nicht kitschig genug sein können. Aber ihm selbst widerstrebte jeglicher Krimskrams, Funktionalität ging ihm über alles. Also suchte er nach möglichst zweckmäßigem und halbwegs stilvollem Ramsch, wobei sich die Eigenschaft „stilvoll“ bei ihm in Ermangelung von Kunstgeschmack vor allem über den Preis ausdrückte.
Erst bei der Ausflugsfahrt wurde er fündig. Der Tag war wie für Sarah bestellt. Durch eine lückenlos weiß glitzernde Winterlandschaft fuhren sie bis an die Stadtgrenze Münchens, stellten den Wagen in einem Vorort ab und nahmen die S-Bahn ins Zentrum. Sarah hielt eifrig Ausschau nach alpenländischen Häusern, aber ließ sich ihre Enttäuschung über die Betonsilos des Wohngürtels rund um die bayerische Hauptstadt nicht anmerken.
Den Dom und das liebliche Glockenspiel des Rathauses integrierte sie gern in ihr Deutschlandbild; was ihr nicht hineinpasste – Verkehr, Bettler, Großkaufhäuser, Hektik – ignorierte sie. Sehr deutsch fand sie den Weihnachtsmarkt, verblüffend die Erkenntnis, dass Lebkuchen hier etwas zu essen waren und nicht nur Plastik-Verzierung an der Nikolauswerkstatt. Sie ließ es sich nicht nehmen, den Weg durch die Welt der Düfte und Lichter und Klänge des Marktes mit einem dicken Lebkuchenherz um den Hals fortzusetzen und einem geöffneten Päckchen in der Hand zum sofortigen Verzehr.
In einer der Buden, endlich, entdeckte Lothar Sahm ein passendes Weihnachtsgeschenk für sie: ein verschneites Wetterhäuschen mit einem Christkind für Sonne,
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