Köhler, Manfred
Stich lassen, zudem bot sie ihm kreative Herausforderungen, denen sich zu stellen ihm ein Anliegen war.
Erstaunt erkannte er, dass sie und er sich gegenseitig beflügelten. Dank ihr entstanden Glossen und Reportagen, die er sich vor einem halben Jahr selbst nicht zugetraut hätte. Sein Job wurde durch sie wieder interessanter. Er hatte zwar nicht weniger öde Termine durchzustehen, aber es gab jetzt mehr Höhepunkte. Das alles änderte nichts daran, dass ihm die wachsende Vertrautheit zwischen ihr und sich von Tag zu Tag unheimlicher wurde, dass er sich zunächst innerlich dagegen wehrte und irgendwann auch nicht mehr fraglos alles umsetzte, um was sie ihn bat, sich zuweilen rundheraus widersetzte. Das aber verärgerte sie nicht etwa, sie rechnete es ihm als Aufrichtigkeit an. So konsequent sie in ihrer Ekligkeit gewesen war, so beständig und treu war sie in ihrer Geneigtheit.
Ein typischer Tag in Lothar Sahms Leben sah nun folgendermaßen aus: aufstehen um fünf Uhr, duschen und anziehen, Kaffee mit hochnehmen in sein Arbeitszimmer, in zwei Stunden drei druckreife Seiten Reiseführertext produzieren, fertig machen zur eigentlichen Arbeit, spätestens um neun Uhr in der Redaktion antreten, bei minimaler Mittagspause durcharbeiten bis sieben Uhr, oft auch länger, und dann – sofern er nicht Nachtdienst oder Abendtermine hatte, was leider immer häufiger vorkam – ab zu Ellen, die tagsüber in aller Ruhe nach und nach ihre rund 15.000 Dias der Reise sichtete und in Etappen ordnete, um sie ihm abends vortragen und sie mit ihm durchdiskutieren zu können. So konnte er gegen Mitternacht, aufgetankt mit Bildern, Gefühlen und Reise-Erinnerungen, nach Hause gehen, um am Morgen die nächsten drei Seiten zu schreiben.
Nur: So einfach, wie Ellen sich das vorstellte, konnte und wollte er es sich nicht machen – es ging auch gar nicht. Was wären das für Texte geworden, die lediglich die Fotos erklärt und vertieft hätten? Die eigentliche Arbeit bestand für ihn darin, die Bilder zu ergänzen. Hier nun, im Gegensatz zum Roman, waren ihm seine Aufzeichnungen von Nutzen. Er hatte mit fast jedem Menschen gesprochen, der Ellen zum Fotografieren angeregt hatte, mit Holzfällern und Umweltschützern, mit Indianern und weißen Einsiedlern, mit Luxus-Touristen, die mit Campmobilen so gewaltig wie Reisebusse quer über den Kontinent schipperten, und mit Trampern, die mit Rucksack und Zelt durch die Wälder streiften. Über all diese Leute hatte er genug Informationen, um kleine und auch größere Geschichten zu den Bildern schreiben zu können. Hand in Hand gingen Text und Bild auch bei Attraktionen wie dem Signpost Forest, einem gigantischen Rodeo namens Williams Lake Stampede oder einem Pow Wow verschiedener Indianerstämme, dem sie hatten beiwohnen dürfen.
Dann waren da Fotos, die ihm gleichgültig und keine Zeile Text wert waren, die Blümchen am Highway-Abzweig bei Whitehorse zum Beispiel, aber Ellen waren sie so wichtig, dass sie auf sprachliche Umsetzung drängte. Umgekehrt war er fasziniert von den endlosen Wäldern entlang des Alaska Highways. Er schrieb über den gigantischen, oft sogar mörderischen Kraftakt, den es bedeutet hatte, die Straße in den Vierzigerjahren der Wildnis abzutrotzen. Es war nicht mal ein Trampelpfad vorhanden gewesen, dem man hätte folgen können, totaler Urwald war zu roden, Wurzelstöcke waren aus der Erde zu reißen, dann erst konnte der Untergrund planiert, und es konnte die Fahrbahn gebaut werden, Meter für Meter. Er schrieb, dass erst dieser Highway den Autofahrern – allen außer Ellen – deutlich mache, was es wirklich hieß, eine Straße zu bauen:
„Dem Land wird die Undurchdringlichkeit genommen, der Mensch tastet sich hinein, verschafft sich Platz, macht das Land zu seinem Lebensraum. Eine solche erste Straße ist eine Startrampe für die Zivilisation, auf ihr können sich auch Menschen ins Land wagen, die sich nicht durch den Urwald schlagen wollen. Obwohl man weiß, dass die Wildnis rings um dieses winzige Kratzerchen im Elefantenkörper des Waldes noch genauso abweisend ist wie zu Urzeiten, und obwohl man weiß, dass fröhliches Reisen auf dem Alaska Highway auch heutzutage nur im Sommer möglich ist, meint man, wegen dieser einen Verbindung hindurch, die der Wildnis ständig aufs Neue abgetrotzt werden muss, sei dieses Land nun gezähmt und Teil der Zivilisation. Sich gegen diese Illusion zu wehren, bedeutet erst den wahren Unterschied zwischen dieser und anderen
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