Köhler, Manfred
Straßen zu begreifen – der Alaska Highway ist noch immer eine Startrampe und wird vielleicht nie Teil eines Straßennetzwerkes sein.“
Ellen, als sie sein Tagesergebnis zu diesem Thema durchging, meinte: „Das ist viel zu viel Text für diese öde Strecke. Da kommen mir höchstens zwei Bilder ins Buch.“
„Na und, dann überwiegt eben der Text in diesem Kapitel mal die Fotos.“
„Das wird aber ein Reiseführer über West-Kanada, kein Loblied auf eine einzelne Straße.“
„Ich finde, das muss der Verlag entscheiden. Oder soll ich die drei Seiten jetzt wegschmeißen und nur 77 abgeben?“
„Nein, aber vielleicht kannst du dich künftig beim Schreiben mehr an die Foto-Ausbeute halten. Pass auf, was du heute siehst, wir kommen nach Jasper und Banff!“
Sie knipste das Licht aus und schob das erste Dia in den Projektor. Blaugrüne Wälder spiegelten sich in einem Smaragd-See, dahinter kratzte ein Gebirgsmassiv mit weißen Kuppen am Himmel. Diese Dia-Abende in der Beengtheit ihres Wohnwagens verblüfften Lothar Sahm immer wieder aufs Neue. Die Fotos übertrafen die Wirklichkeit, die er in Erinnerung hatte, um Längen. Als Ellen ihn in das Reiseführer-Projekt eingeweiht hatte, zweifelte er nicht einen Augenblick daran, hinreichend unterhaltsame Texte liefern zu können – aber er hielt es für fraglich, ob die Fotos genug hergeben würden für ein ganzes Buch. Nun aber, Abend für Abend, zerstreute ihm Ellen diese heimliche Befürchtung mit eindrucksvollen, brillanten, unglaublich vielfältigen Bildern. Warum nur hatte er das Land nicht vor Ort genauso grandios erlebt? Natürlich war er oft beeindruckt gewesen, er hatte manche Gebirgskulisse mit den Augen durchwandert und ihre Unberührtheit als ein letztes Stück Heile Welt genossen; und natürlich lagen die Attraktionen so weit verstreut, dass man sie in der Realität gar nicht so gebündelt wahrnehmen konnte wie in der Zusammenfassung eines Diavortrages. Aber dennoch: Es blieb ein Rest von besonderer Verzauberung, der das Gefühl beim Sichten der Bilder weit über das Erlebnis der Realität stellte.
Ihm kam der Verdacht, dieses Entzücken könne weniger mit der Qualität der Aufnahmen zu tun haben als mit Verklärung der Vergangenheit. Sah er die Bilder, dann fielen ihm nicht etwa die kleinen Alltags-Kümmernisse ein, unter denen die Eindrücke damals gelitten hatten: Dass er im Moment der Aufnahme Rückenschmerzen hatte, Hunger litt, von Mücken gepiesackt wurde, dass ein kleiner Streit schwelte, das alles war längst vergessen. Was er dagegen unbewusst in solche Bilder legte, war das Paradies völliger Unkenntnis um die Zukunft: Gegenwärtiger Ärger war noch unbekannt, so mancher Fehler noch nicht gemacht – in dieses glückliche Nichtwissen und Noch-Nicht-Getanhaben sehnte er sich zurück.
Zuweilen waren Lothar Sahm Gedankenspielereien wie diese beim Vorankommen mehr im Weg als Liane Czibulls wachsende Arbeits- und Qualitätsanforderungen. Er saß dann frühmorgens in seinem Arbeitszimmer und glitt mit den Gedanken und schließlich auch mit dem Bedienen der Tastatur in Texte, die er zur Wiederaufnahme in der Zeit nach dem Reiseführer nur ganz kurz anreißen und festhalten wollte, in die er sich aber dann so tief hineinwagte, dass er die Zeit vergaß, und durch die er zu weiteren interessanten Themen gelangte, zum Beispiel seiner Entdeckung, wie unbemerkt das anfängliche Missbehagen bei seiner Heimkehr wieder in totales Zuhausesein übergegangen war. Der Versuch, sich mit dem Rhythmus von unterwegs in seinem gewohnten Alltag zurechtzufinden, war belebend gewesen, aber auf Dauer zu mühevoll. Schon nach wenigen Tagen hatte er sich dankbar und erlöst in das durch langes Hocken seinen Charakterformen perfekt angepasste Nest festgefügter Abläufe und griffbereiter Gegenstände fallengelassen. Nicht mal zwei Monate lag es zurück, dass er es gar nicht anders gekannt hatte als so zu leben, und doch kam es ihm so vor, als habe er zwischenzeitlich jahrelang in ein ihm fremdes Dasein hineingeschnuppert, als läge ein Abgrund zwischen dem Alltag vor der Reise und dem danach. Unwillkürlich dachte er in Kategorien wie „damals“, „davor“ oder „früher“.
Doch trotz dieser Kluft hatte er selbst sich nicht im Mindesten verändert. Eher hatte die Zeit, in der er ganz anders hatte leben müssen – was ihm, entgegen seiner Erwartung, mühelos möglich gewesen war –, seine gängige Lebensweise verhärtet. Und wozu sie nun auch ändern? Ihm
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