Köhler, Manfred
geschnittenen Fingernägeln nicht herausbekam. Er musste erst in die Küche gehen und ein Messer holen. Fahrig durch seinen Groll auf den Missetäter fügte er seiner Haustür beim Entfernen eines besonders fest sitzenden Reißnagels eine Schramme zu. Jetzt wollte er aber wissen, wem er den Schaden zu verdanken hatte! Er faltete den Zettel auseinander.
„Deine Ellen“, stand unter einem in schwungvollen Buchstaben geschriebenen Text. Die hätte doch wohl auch anrufen können!
„Ich kann leider nicht anrufen“, schrieb Ellen in ihrem kleinen Brief, „denn das Telefon in der Campingplatz-Küche spinnt. Komm bitte gleich heute Abend zu mir, egal wie spät, ich habe tolle Neuigkeiten!“
Lothar Sahm hatte aber keine Lust, sich wieder ins Auto zu setzen und zu ihr zu fahren. Er hatte sich darauf gefreut, eine Pizza in den Ofen zu schieben. Und ihm war bang zumute wegen der Glosse. Und er war sauer auf Ellen. Gestern noch hatte es ihn gedrängt, sie zu sehen, aber kaum konnte er sicher sein, dass sie ihm nichts nachtrug, vermisste er sie bei weitem nicht mehr so schmerzlich. Und jetzt das mit den Reißnägeln!
Aber er war neugierig. Also schloss er seine Haustür wieder ab, betrachtete noch einmal kopfschüttelnd die vier Löcher und die Schramme, setzte sich widerstrebend ins Auto und fuhr los.
„Na endlich!“, begrüßte ihn Ellen laut rufend, kaum sah sie ihn die Windungen des Weges heransteigen. Sie hockte auf der Einstiegskante ihres Wohnwagens und mampfte ein Brötchen.
„Jetzt rate mal, was passiert ist!“
„Keine Ahnung.“
„Es hat mit deinen Texten zu tun!“
„Die sollen auf die Kalenderblatt-Rückseiten mit drauf?“
„Nein, viel besser! Willst du mal beißen?“
Hartwurst mit Gurke. Aber er hatte Hunger, also biss er herzhaft hinein – und verzog das Gesicht. Das Brötchen hatte sie wohl noch von einer der Reise-Vorbesprechungen in ihrem Wohnwagen herumliegen gehabt.
„Also, denen haben meine Bilder so gut gefallen, dass es ihnen schwer gefallen wäre, nur zwölf davon zu nehmen. Jetzt rate noch mal!“
„Die wollen gleich zwei Kalender machen“, würgte er hervor, schwer an seinem Brötchenbissen kauend und drauf und dran ihn auszuspucken.
„Quatsch! Komm, setze dich zu mir! Schau mal, der Sonnenuntergang...“
„Also, jetzt sage schon endlich!“
„Einen Reiseführer wollen sie machen!“, jubelte Ellen. „Und du sollst die Texte dazu schreiben!“
„Ich soll...?“
„Oder traust du dir das nicht zu?“
„Was? Natürlich traue ich mir das zu!“
„Oder hast du vielleicht nicht genug Stoff? Keine Bange, du kannst dir ja meine Bilder anschauen, da fällt dir bestimmt was ein.“
„Ich habe sehr wohl genug Stoff. Ich habe ja von überall, wo wir waren, Prospekte mitgenommen...“ – „...und das ist dein zweifelhafter Verdienst“, fügte er in Gedanken hinzu, „weil ich nirgends lange genug bleiben durfte, um mir alles in Ruhe anzuschauen.“
„Na also!“
„Und dieser Reiseführer wird dann wirklich auch veröffentlicht? Ich dachte, die machen nur Kalender.“
„Na klar wird der veröffentlicht, sogar im ganzen deutschsprachigen Raum. Dieser Verlag hat überall seine Finger drin, nicht nur bei Kalendern, das wird ein Riesending! Auf gute Zusammenarbeit, Partner.“
Andreas Crähenberger hatte es sich seit einiger Zeit zur Angewohnheit gemacht, nicht länger die politische Berichterstattung, sondern die Glossen in seiner Zeitung zuerst zu beachten, vor allem dann, wenn sie mit den Kürzeln LC oder inzwischen wieder LS endeten. An diesem Morgen nun, er saß wie immer mit seiner Frau im Wintergarten seines Bungalows beim Frühstück, hatte soeben eine Serviette auf seinem Schoß ausgebreitet, das Mädchen trug die Viereinviertelminuteneier auf, konnte er Folgendes lesen:
Telefonterror
Überall da, wo Geld und Güter von Macht und Reichtum eines Menschen zeugen, ist auch ein unerklärliches Kraftfeld zu spüren, eine Art Aura des Erfolges, hervorgebracht vor allem von zwei Eigenheiten, die den Mächtigen vom Fußvolk abheben: die Kunst, meist unerreichbar zu sein; und der stete Drang, keinen öffentlichen Auftritt ohne Vorankündigung zuzulassen. Mit letzterer Eigenart beglückt der Erfolgreiche zuweilen auch fernmündlich.
Klingelte also neulich das Telefon: „Grabgebinde und Trauerschleifen AG Stengel und Birner, Holzleitner am Apparat. Guten Tag! Herr Direktor Stengel möchte persönlich mit Ihnen sprechen, übernehmen Sie bitte?“ – Ein
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