Köhler, Manfred
genügte, außer in den Momenten innerer Rebellion, das Wissen, anders leben zu können, wenn es je nötig werden sollte.
Eines Morgens bei einer seiner Abschweifungen durchdrang ihn das Gefühl, sich selbst ein Stück näher gekommen zu sein. Gerade in seinen Gewohnheiten, das wurde ihm klar, lag der Schlüssel zum Verständnis dessen, was ihn aus seiner Festgefahrenheit befreien konnte. Welche Gewohnheiten waren der direkte Ausdruck seines Charakters? Und welche Gewohnheiten hatte er sich verordnet, um mit Charakterzügen fertigzuwerden, die er nie wollte und so fest verleugnete, dass ihm gerade der Blick hinter die Maske der Gewohnheit und damit die Erkenntnis ihrer Wahrheit wie Selbstverleugnung erschiene?
Mit diesen Fragen musste er schließen – es war 8.30 Uhr, um 9 Uhr begann eine Kreistagssitzung, zu der er eingeteilt war. Erstmals seit Beginn seiner Reiseführerarbeit vor knapp zwei Wochen hatte er an diesem Morgen nur eine Seite statt drei geschafft. Aber er war zuversichtlich, am Nachmittag einiges aufholen zu können. Es stand an diesem Tag nicht viel mehr für ihn an als diese Kreistagssitzung.
Die aber wurde zum Marathon. Wegen eines lächerlichen Details der neuen Müllgebührenverordnung verbissen sich zwei Kreisräte ineinander, ganz klar nicht der Sache wegen, sondern um parteipolitisch zu punkten. Die Sitzung zog sich bis in den frühen Nachmittag, er hatte drei Stunden daran zu kauen und kam nicht umhin, einen Kommentar dazu zu schreiben. Den aber akzeptierte Liane Czibull nicht, wie er gehofft hatte, als Glossen-Ersatz. Sie bat ihn nicht, sie ordnete an, sich noch eine Glosse einfallen zu lassen. Zum ersten Mal seit sie die Positionen getauscht hatten ging sie auch mit ihm wieder um, wie er es von früher gewohnt war. Was sie aus ihrer Rolle der mütterlichen Leitfigur hatte springen lassen, war eine Auseinandersetzung mit Steffi gewesen. Der stellvertretenden Redaktionsleiterin war zu Ohren gekommen, dass die Kollegin Berthold sich nicht nur im engsten Mitarbeiterkreis zur Wortführerin einer Anti-Czibull-Kampagne aufgeschwungen, sondern auch Rat bei der Gewerkschaft und beim vor sich hindümpelnden Betriebsrat der Zeitung gesucht hatte, wie man sich gegen den wachsenden Druck zur Wehr setzen könnte. Liane Czibull ließ Steffi Berthold umgehend in ihrem Büro antreten.
Dort aber, hinter verschlossener Tür, geschah etwas, das Lothar Sahm der sonst großmäuligen aber eher kleinmütigen Steffi nie zugetraut hätte: Sie kuschte nicht etwa vor ihrer Gegnerin, sie muckte auch nicht nur ein bisschen auf, sondern ging so richtig zur Sache. Die Auseinandersetzung war am Höhepunkt, als er aus dem Landratsamt kam, die Kolleginnen Margot und Mandy, inzwischen Redakteurin, und Praktikant Uwe saßen wie ängstliche Mäuschen an ihren Schreibtischen und spitzten die Ohren, um aus dem Duell schriller Frauenstimmen einzelne Worte heraushören zu können; Redaktionsleiter Walter Wonschack hatte sich hinter verschlossener Tür verschanzt. Lothar Sahm, der auf dem Weg zu seinem Schreibtisch direkt an der Bürotür Liane Czibulls vorbeizugehen hatte, bekam dabei einige Sätze mit, eine Offensive Steffis mit lauter aber beherrschter Stimme: „Was wollen Sie überhaupt, Sie sind nur die Stellvertreterin. Für mich gilt das, was der Redaktionsleiter anordnet.“
„Ich habe die gleichen Befugnisse“, gab die Czibull deutlich lauter zurück, „und wenn Ihnen das nicht passt, dann suchen Sie sich einen anderen Job!“
„Sie können mir überhaupt nicht mit Entlassung drohen“, parierte Steffi mit deutlichem Unterton von Hohn, „das kann allenfalls der Geschäftsführer. Und selbst wenn Sie mit dem...“
Er hatte seinen Schreibtisch erreicht. Von dort waren nur laute Stimmen, aber keine verständlichen Worte mehr zu hören. Er wollte auch gar nicht verstehen, was die zwei Frauen sich um die Ohren hauten – Geschrei und Streit waren ihm zuwider, aber bei diesem speziellen Streit wurde ihm zudem bewusst, dass ihn der ganze Konflikt nicht kümmerte, er wollte nichts damit zu tun haben. Er wollte in Ruhe seinen Job machen, solange er das musste, und so bald wie möglich jeglicher Hierarchie und allem damit verbundenen Hickhack entkommen.
Er schrieb also seinen Kreistags-Artikel, unterbrochen immer wieder von dem starken Impuls: Ich muss hier raus, ich muss hier raus! Raus aus diesem belanglosen, kräftezehrenden, krankmachenden Alltag! Ich will schreiben, nichts als schreiben! Frei sein!
Sein Roman
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