Köhler, Manfred
alles ein, nahm Visier auf ihren Kollegen und sagte dann, von der Kamera halb verdeckt:
„Ob Sie es glauben oder nicht Lothar, es ist schon nach 21 Uhr.“
Das Gesicht, das er bei dieser Mitteilung machte, hielt sie im Bild fest.
Als er Ellen das nächste Mal traf, war der Boreal-Artikel Altpapier und fast vergessen. Ellen aber bekam die Zeitung nicht täglich, sie holte sie wochenweise von einer Campingplatz-Nachbarin. Für sie waren die Fratzen des verwirrten Redakteurs noch frisch im Gedächtnis, und sie fragte:
„Was sollte das eigentlich mit dem ganzen Nebel?“
„Keine Ahnung, vielleicht Ausdruck meiner neblig-trüben Wesensart.“
„Aber irgendwas scheint mir da doch dran zu sein.“
„Ellen, wenn du glaubst, dass da was dran ist, dann klingle mal in der Altstadt 47, schau dir diesen Halunken an und wirf vor allem mal einen Blick in sein Badezimmer.“
Er spürte den ganzen Widerwillen gegen diesen Menschen in sich hoch kochen. Am meisten ärgerte ihn die Deutung der Tarot-Karte, die er gezogen hatte: Es wird nichts aus den großen Plänen – was er auf seine Schriftstellerkarriere bezog.
Aber nicht mit Lothar Sahm! Er hatte Ellen um dieses Treffen gebeten, um mit ihr über Werbestrategien für den Reiseführer zu sprechen, die über die standardisierten PR-Maßnahmen des Verlages hinausgehen sollten. Sein erstes Buch sollte gleich ein Renner werden, es sollte einschlagen und ihn in die Freiheit katapultieren, die er sich ersehnte. Er hatte sich eine Liste gemacht, die er Ellen nun vorstellte: Buchhändler der Region abklappern mit der Bitte, das Werk an exponierter Stelle zu präsentieren; persönliche Kontakte zu Medien in anderen Städten nutzen; Diavorträge mit Bücher-Verkaufsstand; sämtliche Freunde und Bekannten anschreiben und Preisnachlass anbieten; Firmen der Region kontaktieren und das Buch als Weihnachtsgeschenk für die Belegschaft empfehlen, ebenfalls mit Rabatt; Internet-Homepage erstellen mit möglichst vielen Links zu artverwandten Seiten...
„Die beiden wichtigsten Punkte fehlen aber auf deiner Liste“, stellte Ellen fest.
„Was denn?“
„Na, was wohl? Erstens möglichst viele Lesungen. Außerdem muss ein großer Artikel über uns in die Rundschau und in alle Anzeigenblätter, wir müssen den Heimvorteil in Wallfeld nutzen.“
Lothar Sahm gab ein Brummen von sich, das nach Zustimmung klang, damit Ellen Ruhe gab. Noch hatte er Liane Czibull in die bevorstehende Veröffentlichung nicht eingeweiht, und er gedachte, dieses Wagnis mit ungewissem Ausgang vor sich herzuschieben, bis die Laune seiner Chefin mal wieder so mies sein würde, dass es ohnehin nicht darauf ankam.
Momentan war Liane Czibulls Stimmung blendend, und das lag an der neuesten lokalen Sensation: Bei Ausschachtungsarbeiten zu einem Kaufhaus-Prestigebauprojekt in der Fußgängerzone waren Tonscherben aus vorgeschichtlicher Zeit gefunden worden. Museumsdirektor a. D. Dr. Dr. Hans-Bernd Rosenholz meldete sich aus dem wohlverdienten Ruhestand heraus zu Wort und verschaffte sich bei seinem alten Golf-Kameraden Andreas Crähenberger redaktionellen Raum für tägliche Erörterungen zum Voranschreiten der Ausgrabungen, Erörterungen, die Rosenholz wissenschaftlich nannte.
Als die Bauarbeiten wegen der archäologischen Ausgrabungen ins Stocken gerieten und der Investor mit Rückzug drohte, entfachten sich öffentliche Diskussionen über Sinn und Unsinn des Zwangs zur Freilegung der letzten unbedeutenden Tonscherbe zulasten des so dringend ersehnten zusätzlichen Gewerbesteueraufkommens – bis auf einer tieferen Ausgrabungsebene plötzlich Skelette gefunden wurden. International anerkannte Archäologen begannen sich für Wallfeld zu interessieren, keiner konnte sich diese offenbar aufwändig bestatteten Toten erklären. Aus dem Geheimnis erwuchsen Gerüchte von steinzeitlichen Gräberfeldern in einer Ausdehnung vom nahe der Fußgängerzone gelegenen Eichelwäldchen bis zum sogenannten Bärengebirge, einer Felsformation, die jenseits der einstigen Stadtmauer aus dem Pflaster ragte. Crähenberger dachte nicht etwa daran, seine „Wallfeld in der Frühzeit“-Kolumne nun von einem der angereisten Fachleute bedienen zu lassen, er hielt weiter am äußerlich tattrigen aber seiner Meinung nach noch immer messerscharf argumentierenden Museumsdirektor a. D. Dr. Dr. Rosenholz fest. Und der legte sich nun so richtig ins Zeug, ein inhaltliches Eigentor war nur noch eine Frage der Zeit. Das Duo Czibull/Sahm lauerte
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