Köhler, Manfred
raus.
Und vor deiner Zeugung?
So ein Schwachsinn!
,
dachte Lothar Sahm. Merken die nicht, dass auf solche Fragen nur zusammenfantasierte Antworten kommen können? Klar will ein Kind im Mutterleib erst raus, aber will es nicht mehr, wenn es so weit ist. Ich antworte halt irgendwas, damit ich nicht durch Schweigen zum Spielverderber werde. Klar ist man als 16jähriger rebellisch und will weg, klar denkt man als 26jähriger an Karriere. Was erwarten die? Große Lebensbeichten? Ich bin nicht hypnotisiert, alles was ich liefern kann, sind Antworten, die irgendwie zu den Fragen passen.
Und vor deiner Zeugung?
Auf einmal konnte dieser Scharlatan sogar vernünftig sprechen!
Und vor deiner Zeugung? Du bist ganz locker und ruhig, du siehst alles ganz klar vor dir.
Es blitzte. Lothar Sahm spürte, dass Liane Czibull für einen Moment ganz nah neben ihm gewesen war. Ihre Gegenwart hing noch an seiner Seite, als sie körperlich schon wieder weg war.
„Alles ist grau.“
„Dann gehen wir noch weiter in der Zeit zurück, so weit, bis du wieder Bilder siehst oder etwas hörst. Was siehst du?“
„Nebel, alles ist grau.“
„Du kommst an einen Spiegel und schaust hinein. Was siehst du?“
„Nebel, alles ist grau.“
Lothar Sahm fühlte Zorn aufkommen, eine fürchterliche Wut auf diesen unappetitlichen Betrüger. Was hatte der in ihm zu wühlen, was tat er ihm an? Er hatte nicht das übliche Nichts vor Augen, das entsteht, wenn man die Augen schließt und versucht an nichts zu denken. In diesem Nichts gab es keine Zeit, kein Leben – wie irritierend war es, aus der Zeit und aus dem Leben heraus zu ahnen, wie ein Bewusstsein ohne Zeit und Raum sich selbst überlassen leidet und sich ein Leben in einem Körper nicht vorstellen kann. Diese Machtlosigkeit, dieses Ausgeliefertsein in scheinbar alle Ewigkeit! Dieser Nebel nach allen Richtungen, nach unten und hinten. Nebel statt Füße und Boden, Nebel statt Stand und Halt und Dimension, Nebel als Form eigener Existenz.
„Du lässt jetzt diesen Nebel hinter dir und kommst zurück in die Gegenwart. Ich zähle von fünf rückwärts, und du bist wieder ganz wach, du bist froh und glücklich und fühlst dich wohl. Fünf, vier, drei zwei, eins – du öffnest die Augen.“
Das hatte er sowieso vorgehabt, das musste man ihm nicht sagen! Er kam aus freien Stücken zurück! Dieser Schweiß- und Lösungsmittelgeruch, herrlich, wie schön war es, in diesem Zimmer zu sein und einen Körper zu haben, mit dem man weitgehend frei war zu tun, was einem gerade einfiel! Es blitzte. Da fiel Lothar Sahm ein, wie gern er selbst fotografierte. Und wie gern er erst schrieb! Er war in der Lage, eine Tastatur zu bedienen, er hatte Finger und Augen. Er war in einer nie gekannten Hochstimmung.
„Wissen Se“, sagte der Hypnotiseur zu Liane Czibull. Sie hatte die Kamera beiseite gelegt, die Spitze ihres Kugelschreibers sauste über ihren Block. Es war so schön, ihr dabei zuzusehen.
„Es gibt auch Seelen, die komme zum erste Mal auf diese Welt, und solchet Seele scheint mir der hier zu gehören. Solchet Seele erinnert sich an Wartestadium in zeitlose Dimension und hat ansonstne nix zu berichte.“
Aus seiner Hochstimmung der Gerüche und der Freude über fleißig arbeitende Menschen stürzte Lothar Sahm in ein Loch tiefer Zurücksetzung. Er wollte keine neue Seele sein, kein Anfänger unter den tausendfach Wiedergeborenen! Er kam sich vor wie ein Roboter, der die ganze Zeit geglaubt hatte, ein Mensch zu sein, und der nun gesagt bekam, seine sämtlichen Erfahrungen seien nichts als Daten, die gezielt ausgewählt auf eine leere Festplatte kopiert worden waren, alle Gefühle programmiert statt selbst durchlitten.
„Also, wenn ihr wissen wollt, was ich davon halte: Nichts gegen Sie persönlich, Herr Metzner, aber ich habe letzte Nacht recht unruhig geschlafen, und da döst man natürlich ein bisschen ein, wenn man die Augen schließen soll, vor allem, wenn mit einem Pendel vor einem herumgefuchtelt wird. So um 18 Uhr habe ich sowieso grundsätzlich ein Tief und werde müde, das ist ganz normal. Ich weiß nicht, was ich da alles gesagt habe, das heißt, ich weiß es schon noch, aber das war so ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen, da sieht man Traumbilder, und die haben Sie mir halt entlockt. Aber ich möchte jetzt wirklich gehen, es ist bestimmt schon bald sieben, und ich will heute ins Kino.“
Als Liane Czibull das hörte, holte sie schnell noch einmal ihren Fotoapparat hervor, stellte
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