Köhler, Manfred
verhohnepiepelt zu werden – dafür aber blieb es ihm jetzt erspart, sich durch eine Lehre hindurch zu langweilen oder zwischen Hunderten von Kommilitonen in einen überfüllten Hörsaal eingepfercht auf die Arbeitslosigkeit hin zu studieren. Sein Leben würde unverwechselbar verlaufen, er würde Erfahrungen machen, die der Durchschnitts-Malocher und -Familienmensch sich nicht mal vorzustellen in der Lage war, er würde Persönlichkeiten kennenlernen oder kannte sie bereits, die viel erlebt und daher viel zu erzählen hatten, die das Leben wirklich kennenlernten und nicht nur an sich vorüberziehen ließen.
Auch auf die Gefahr hin, Herbert Leonheimer nicht mehr loszuwerden, schrieb Lothar Sahm einen glühenden Lobgesang auf Pati Leon und entblödete sich nicht einmal, ihm im Namen der Wallfelder Rundschau eine große Karriere zu wünschen. Er beneidete diesen jungen Mann. Der kleine Busch spielte doch wieder mit dem Gedanken, zum großen Baum heranzuwachsen. Der zweite Reiseführer musste einfach ein Erfolg werden, und dann Adieu, ihr Werbetexte – dann würde er diesen Erfolg als Sprungbrett nehmen, mit seinem ersten Roman durchzustarten.
Kapitel 12: Aufbäumen
Lothar Sahm war bester Laune, als er am Freitagmorgen einen Brief der Geschäftsleitung auf seinem Schreibtisch vorfand. Was immer da mal wieder drinstehen mochte, es würde ihm seine Hochstimmung nicht verderben! Er hatte es am Morgen auf vier Seiten Reiseführertext gebracht und zudem noch manche Idee zur Verfeinerung seines Romanentwurfes skizziert. Er war drin, seine Kreativität war entzündet! Was ihm jetzt fehlte, war Zeit – fast hoffte er, Crähenbergers Brief möge die Kündigung sein.
Es war eine kollektive Belobigung. Dank der hervorragenden Leistungen aller Mitarbeiter und vor allem dank des neuen Seiten-Konzeptes der stellvertretenden Redaktionsleiterin habe die Wallfelder Rundschau ihre Auflage – erstmals seit den Achtzigerjahren – nennenswert steigern können. Als Zeichen der Anerkennung seitens der Geschäftsleitung werde jedem Mitarbeiter ein Tag Sonderurlaub gutgeschrieben. Persönliche Unterschrift, schwungvoll und gut leserlich: Andreas Crähenberger, Geschäftsführer. Das war das erste Schreiben positiven Inhaltes, das Lothar Sahm je im Auftrag dieses Menschen zu Gesicht bekam. Erfreut über den gemeinsamen Erfolg und das Lob, glücklich über das Geschenk des freien Tages, lächelte er still vor sich hin, während er an diesem Morgen die Post bearbeitete.
Als er seine E-Mails abfragte, stürzte er ins Bodenlose. Aus Berlin erreichte ihn die Nachricht: „...müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir uns dagegen entschieden haben, einen Reiseführer über Alaska zu veröffentlichen. Diese Entscheidung hat nichts mit der Qualität Ihrer Arbeit zu tun. Selbstverständlich können Sie die von Ihnen verfassten Texte einem anderen Verlag anbieten oder in Magazinen oder Zeitschriften veröffentlichen. Was die Bilder betrifft, würden wir gerne eine Auswahl davon für ein Kalender-Projekt heranziehen. Nähere Einzelheiten besprechen Sie bitte mit...“
Ein Name, eine Telefonnummer, mit freundlichen Grüßen: ein weiterer Name. Die E-Mail war adressiert an Herrn Lothar Sahm, zu Händen Frau Ellen Frey. Sie hatte weder Telefon oder Fax noch Internet, und ein Campingplatz als Postanschrift war dem Verlag wohl zu suspekt. Also hatte Lothar Sahm jetzt den Schwarzen Peter, ihr die Absage auszurichten, was ihm fast mehr zusetzte als die Absage selbst. Was würde er von ihr zu hören bekommen? Natürlich, dass seine Texte schuld waren. Der diesem Vorwurf unvermeidlich folgende Streit würde ihn so aufwühlen, dass er die halbe Nacht nicht würde schlafen können.
Um sich das zu ersparen, wollte er seinen Unglücksbotendienst gleich in der Mittagspause hinter sich bringen. Er rechnete damit, dies wäre der letzte Besuch im Wohnwagen von Ellen Frey. Fast war er über die Absage erleichtert – noch ein Reiseführer mit ihr, noch eine Buchvorstellung, eine weitere Lesung, womöglich ein Folgeauftrag, nichts davon hätte er sich wirklich gewünscht. Im Augenblick des Begreifens der Absage hatten sich seine Willenskraft, seine Zukunftsplanung, seine Kreativität und Liebe zum Schreiben auf seinen Roman fokussiert.
Ellen hockte an ihrem Computer, als er den Wohnwagen erklomm. Die paar Sekunden vom Anklopfen bis zum Öffnen der Tür hatte sie genutzt, um rasch die Datei zu schließen, an der sie arbeitete.
„Es tut mir leid, Ellen,
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