Köhler, Manfred
denken. Bevor Sie mir gegenüberstanden, war ich durchaus entschlossen, mit Ihnen auch über meine Krankheit zu sprechen. Als Sie mich dann so direkt darauf ansprachen, ging es nicht mehr. Aber die Art wie Sie schreiben, zeigt mir, dass Ihnen die Illusion fernliegt, mit Ihren Artikeln die Wahrheit über einen Menschen zu enthüllen. Was mich betrifft, haben Sie den richtigen Ton getroffen. Wer Augen hat, zwischen den Zeilen zu lesen, weiß nun Blendwerk und Verwerfungen so in Zusammenhang zu bringen, dass ein Bild entsteht, das mir zumindest nahekommt. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Artikel, es hat mir sehr viel bedeutet, noch einmal in dieser Art dargestellt worden zu sein.
Aber wie geht es nun mit Ihnen weiter? Ich traue mir zu, einzuschätzen, dass Sie Ihrem Traum nahe sind, aber was zu tun ist, da müssen Sie selbst drauf kommen. Ich könnte Ihnen ein paar hunderttausend Euro vererben oder auch eine Million, meine Tochter würde dadurch nicht ärmer, und Sie hätten die Freiheit zu schreiben, aber wirklich gedient wäre Ihnen damit nicht. Ich denke, dass ich Ihnen mehr helfe mit dem Foto, das ich Ihnen beigelegt habe. Es zeigt Ihnen, dass nicht alles, was ich über mich erzählt habe, Schwindelei war. Vielleicht zeigt es Ihnen sogar noch ein bisschen mehr. Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihren Plänen und hoffe, dass ich Ihnen von dort, wo ich bald hin muss, auch ein bisschen dabei zuschauen kann.
Es grüßt Sie
Ihr Siegmar Sarburger
Lothar Sahm nahm das Bild aus dem Umschlag, eine abgegriffene, altersfleckige Schwarzweiß-Fotografie. Zu erkennen war ein junger Mann in Arbeitskleidung mit einem Besenstiel fest in beiden Händen, er stand in einem dunklen Raum, der aussah wie eine unbeleuchtete Theaterbühne. Hätte Lothar Sahm nicht gewusst, wer das war, er hätte ihn nicht erkannt. Der junge Siegmar Sarburger schaute direkt in die Kamera. Das Foto wirkte nicht gestellt, und doch hatte es etwas Demonstratives. Als habe dieser Bühnenkehrer, baldigen Erfolges gewiss, der Nachwelt mitteilen wollen: Seht her, so habe ich angefangen!
In der Mittagspause kaufte Lothar Sahm einen Bilderrahmen. In diesen Rahmen passte er sorgfältig das Foto ein und platzierte es am Abend neben seinem Computerbildschirm auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers. Er gab dem Foto einen Ehrenplatz, wie er meinte, um sich der Ehre dieses Erbstückes würdig zu erweisen. Aber er wusste, Siegmar Sarburger hatte ihm das Foto nicht vermacht, um über den Tod hinaus in irgendjemandes Haus präsent zu sein und wie eine Trophäe ausgestellt zu werden. Es ging um diese Augen. So jung noch, das Gesicht, und schon so entschlossen! Derweil er weiter jeden Morgen an seinem Alaska-Manuskript arbeitete und sich dabei wieder schmerzvoll nach diesem Land zu sehnen begann, überlegte Lothar Sahm, was ein Mensch ihm voraushaben mochte, der zu einem solch ruhigen, selbstsicheren, zugleich kämpferisch-wilden wie geduldigen Blick fähig war.
In der dritten Woche seiner Reiseführer-Arbeit entschied er sich zu glauben, dass dieser Blick sich nicht durch etwas auszeichnete, das ihm selbst fehlte – geeignetere Gene, mehr Lebenskraft, motivierendere Erfahrungen –, sondern dass er so hell strahlte, weil der Seele dahinter die Bürde fremd war, die er selbst zu tragen hatte, die Zentnerlast der Gewohnheit. Sie war es doch in Wahrheit, die ihn der Wallfelder Rundschau nicht entkommen ließ: die Gewohnheit, einem festen Arbeitsrhythmus zu folgen, damit Orientierung im Durcheinander des Lebens zu haben und relativ genau zu wissen, was morgen passieren würde; die Gewohnheit, sich an einen Grundstock alter Bekannter klammern zu können, an Menschen, die man als fertiges Bild im Kopf hat und mit denen man daher gedankenlos zurechtkommt; die Gewohnheit, ein halbwegs anerkanntes Mitglied der Wallfelder Gesellschaft zu sein und kein Tagedieb, der zu Hause angeblich Kurzgeschichten und Romane schreibt, in Wahrheit aber wohl bloß zu faul für geregelte Arbeit ist und mit Sicherheit von der Stütze lebt; die Gewohnheit, einen vollen Kühlschrank und ein fahrtüchtiges Auto zu haben; die Gewohnheit, eine Zukunft vor sich ausgebreitet zu sehen, die frei ist vor bösen Überraschungen.
Das war der entscheidende Unterschied: Das Leben des Redakteurs Lothar Sahm wurde von Gewohnheiten geformt – der Bühnenkehrer Siegmar Sarburger ließ Gewohnheiten nicht zu, er formte sich sein Leben selbst. Sein Job, so öde, erniedrigend und jämmerlich bezahlt er gewesen sein
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