Köhler, Manfred
sprechen. Mit dem Lektor, der sich sogar eine Stunde für sie freigehalten hatte, ließ sie sich nicht abspeisen.
Am Nachmittag erfuhr dieser Mann, welches Glück er gehabt hatte. Ellen Frey hatte dem Reiseführer-Verantwortlichen derart zugesetzt, dass der dem Lektor riet, das Manuskript ungelesen abzulehnen – mit dieser Frau wollte er nie mehr etwas zu tun haben müssen. Das wiederum machte den Lektor neugierig, und er legte Ellens Dias und Texte ganz oben auf den Stapel abzuarbeitender Manuskripte.
Derweil Ellen vor Tatendrang strotzte und im Zug zurück nach Wallfeld mit einem abgekauten Bleistift schon mal weitere Texte für ihren Reiseführer in ein kariertes Schulheft kritzelte, beschloss Lothar Sahm, seinen Konfrontationskurs aufzugeben und künftig emotionslos seine Arbeit zu tun. Die Seite 2 machen, wie es eben gewünscht wurde. Und konsequent am Reiseführer weiterschreiben, es konnte ja sein, dass doch eine Zusage kam und sich mit Ellen alles wieder einrenkte. Er hatte mal einen Spruch aufgeschnappt, an den er sich jetzt erinnerte: Wenn du kein großer Baum sein kannst, dann versuche wenigstens, ein besonders schöner kleiner Busch zu sein. Das schien ihm ein taugliches Rezept, das Leben zu meistern: seine Regeln akzeptieren und in ihrem Rahmen sich entfalten.
Lange wollte es das Leben nicht, dass er nach diesem Rezept kochte. Ein Mann kam an seinen Küchentisch-Schreibtisch, und das war an sich schon ein Ereignis. Denn dieser Herbert Leonheimer war ihm eigentlich unversöhnlich böse.
Vor zwölf Jahren war Lothar Sahm der erste gewesen, der über die artistischen Kunststücke seines damals siebenjährigen Neffen Patrick geschrieben hatte. Der schlug recht eindrucksvoll Rad und schaffte es sogar, sich so nach hinten zu verbiegen, dass er zwischen seinen eigenen Beinen hindurch nach vorne schauen konnte, was noch keinen Artikel wert gewesen wäre, aber der Onkel steckte ihn irgendwann mit Erlaubnis seiner Eltern in ein Artisten-Kostüm und sorgte dafür, dass er bei Sommerfesten und schließlich sogar in einem kleinen Familienzirkus auftrat – mit großem Erfolg, wie man hörte, und so erklärte sich Lothar Sahm bereit, den vermeintlich hochbegabten Buben in Text und Bildern vorzustellen. Was ihn beeindruckte, war die Natürlichkeit des Kindes, der Spaß, den es am Turnen hatte, dass es Lampenfieber nicht kannte, und so schrieb er recht löblich und damit ganz im Sinne des Onkels, was zur Folge hatte, dass der ihn zu seinem Leib-Reporter auserkor in seinem wachsenden Ehrgeiz, den Neffen zum Nachwuchs-Artistenstar zu befördern.
Lothar Sahm schrieb über Jahre hinweg in unregelmäßigen Abständen über bundesweite Tourneen, einen ersten Fernsehauftritt unter dem Künstlernamen Pati Leon – bis er anfing sich zu fragen, ob Patrick Leonheimer eigentlich selbst auch so versessen darauf war, zum Zirkus-Artisten Pati Leon verwurstet zu werden. Durfte er sich zum Komplizen dabei machen, einem Buben Kindheit und Jugend zu beschneiden? Immer war bei Interviews der Onkel dabei, und der kleine Patrick nickte nur begeistert, wenn sein selbsternannter Manager strahlend verkündete, eine internationale Karriere sei im Werden.
Einmal aber kam das Telefon dazwischen, und Lothar Sahm hatte Gelegenheit, das Kind über ein Tabu-Thema des Onkels auszufragen: wie er denn in der Schule zurechtkomme? Die Antwort machte ihn sehr nachdenklich. Offenbar gaben seine Noten zwar keinen Anlass zur Sorge, aber von seinen Mitschülern, das war nicht zu überhören, wurde Patrick Leonheimer wegen seiner ständigen vom Onkel verursachten Präsenz in irgendwelchen lokalen Publikationen auf die Schippe genommen und ausgegrenzt, worunter ihm zu leiden der Onkel auch noch verbat, indem er ihm einredete, das sei alles nur Neid.
Zudem zeichnete sich ab: Das Talent des Knaben hielt sich sehr in Grenzen, über Rad schlagen und sich selbst durch die Beine schauen kam er kaum hinaus. Alles, was diese Karriere vorantrieb, war der rasende Ehrgeiz des Onkels. Damals gerade stellvertretender Redaktionsleiter geworden, kam Lothar Sahm mit Walter Wonschack überein, die Berichterstattung über Patrick Leonheimer einzustellen. Von diesem Moment an wendete Herbert Leonheimer den Blick abrupt zur Seite, wenn er Lothar Sahm auf der Straße begegnete.
Nun aber stand er, überschäumend freundlich wie einst, neben ihm. Der Durchbruch war vollzogen: Pati Leon bekam, rechtzeitig zu seinem 20. Geburtstag, seine eigene Zirkus-Show bei einem großen
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