Köhler, Manfred
beizugeben. Es war doch klar, warum der da gesessen und womöglich sogar den Abriss-Baggern getrotzt hatte und noch da saß: Weil er seine alte Scheune und sein Gerümpel liebte, weil er an diesem Ort zu Hause war, weil er sich dort etwas aufgebaut hatte, das für ihn von Wert war, auch wenn die meisten Menschen es gering geschätzt hätten. Er saß da, weil es der einzige Ort auf der Welt war, an dem er sitzen wollte. Es war sein Leben. Eine andere Antwort gab es nicht.
Aber warum saß Lothar Sahm in der Rundschau?
Mehr Gründe als die, mit denen er Ellens Angriff am Vorabend pariert zu haben meinte, fielen ihm nicht ein. Und letztlich waren das alles Scheingründe, bis auf einen: Er brauchte das Geld.
Aber konnte er seinen Lebensunterhalt nicht auch anders verdienen? Peter Schuster hatte es ihm doch vorgemacht, er hatte sich mit den verschiedensten Jobs durchgeschlagen. Spannend war das, wenn man so aus dem sicheren Beruf heraus darüber nachdachte. Aber Peter war todunglücklich damit gewesen. Der stand auf Sicherheit, und die war auch wichtig, aber jahrzehntelang jeden Tag das Gleiche machen, bis man schließlich so blöde und festgefahren davon geworden wäre, dass man mit der Freiheit des Ruhestandes nichts mehr anzufangen wüsste, das konnte doch kein Leben sein!
Warum saß er in der Rundschau? Es musste doch noch einen anderen Grund geben als nur das Geld, als das krampfhafte Klammern am gegenwärtigen Lebensstandard.
Die Seite 2 als lohnende Aufgabe und immer wieder neue Herausforderung? Nein, schreiben auf eigene Faust war befriedigender.
Sympathie für Liane Czibull, Treue zu ihr, weil sie zu ihm gestanden hatte? Um
Himmels willen, wahrscheinlich sogar das, aber so was durfte doch keinesfalls zählen! Das eigene Leben nach dem eines anderen Menschen auszurichten, konnte nur ins Unglück führen. Was also noch?
Geld. Das ganze Wochenende drehte und wendete er diese eine Frage, gierig sog er an ihr nach einer Antwort. Beim Essen, beim Spazierengehen, beim bloßen Herumsitzen, heraus kam Geld. Heraus kamen die Folgen, die in Ermangelung von Geld eintreten würden: Einschränkungen, Abstieg, sozialer Niedergang, Enttäuschung bei allen nahestehenden Menschen, von allen verachtet werden, Schmach und Schande, irgendwann betteln gehen in der Wallfelder Fußgängerzone. Er brauchte das Geld. Ihm fiel kein anderer Grund ein.
In der Zeit, in der ihn die Frage nicht gar so sehr gedrängt hatte, brachte er an diesem Wochenende immerhin sieben Reiseführer-Seiten zusammen. An den folgenden Werktagen schaffte er sein Soll von drei Seiten. Er würde das durchhalten, was hatte er zu verlieren? Am Ende hatte er schlimmstenfalls ein weiteres Manuskript in die Welt gesetzt, das ungelesen in seinem Keller enden würde. Im Gegensatz zu seinen unzähligen Kurzgeschichten hatte dieses Manuskript aber zumindest eine gewisse Aussicht auf Veröffentlichung.
So ging die erste Woche dahin. Eine Woche relativer Zufriedenheit. Seine Seite 2 brachte, von den Werbetexten abgesehen, doch immer wieder Themen, die ihn persönlich berührten. Aber auch auf halbwegs hochwertigem Niveau zu arbeiten, kann zur Routine und schal werden, wenn nichts von Dauer damit geschaffen wird. Ein Tag Gültigkeit – über den Leser-Erfolg eines Artikels konnte man nur spekulieren – und dann Altpapier: Das galt ja auch für seine Seite 2.
Kein Kontakt zu Ellen in dieser ersten Woche.
In Woche zwei seiner Reiseführer-Frist fand sich unter dem üblichen Wust von Post ein Brief, an dem er zu verdauen hatte, ein Brief aus Kalifornien, an ihn persönlich adressiert und ohne Absender. Der eigentlichen Sendung, die in einem separaten Umschlag verpackt war, lag ein Begleitschreiben bei. Sylvia-Marie Sarburger-Jones teilte ihm in knappen Worten mit, dass in der vergangenen Woche ihr Vater gestorben und in aller Stille beigesetzt worden sei. Unter dem Wenigen, das er außerhalb der Familie zu vererben hatte, seien beiliegender Brief und beiliegendes Foto gewesen, das sie ihm hiermit ordnungsgemäß zukommen lasse.
Lothar Sahm öffnete den Umschlag. Kleine, leicht zittrige aber gut lesbare Buchstaben füllten ein schlichtes Din-A-4-Blatt:
Mein lieber junger Freund,
ich muss Ihnen zwei Lügen eingestehen. Ich hatte in der Anfangszeit meiner Karriere doch einmal einen Künstlernamen, einen ziemlich peinlichen: Burkhard de Mar. Können Sie mir verzeihen, dass ich daran nicht öffentlich erinnern wollte?
Die zweite Lüge können Sie sich inzwischen sicher
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