König 01 - Königsmörder
können, stehen ihre Eltern und beobachten sie. Er weiß, dass sie sich Sorgen um ihn machen. Sorgen, dass er seine kleine Schwester vielleicht nicht lieben würde, weil sie die Magie, die ihm bei seiner Geburt verwehrt geblieben war, im Übermaß besitzt. Ihre Sorge ist unnötig, aber das kann er ihnen nicht sagen. Sie denken, er habe keine Ahnung, warum hinter ihrem Lächeln stets ein Schatten liegt.
Sie sind seine Eltern. Der König und die Königin von Lur, aber sie irren sich trotzdem. Er weiß Bescheid.
Einige Schritte vor ihm gerät seine Schwester ins Stolpern. Ihre Babybeine knicken ein, und sie fällt kopfüber zu Boden. Grasflecken bedecken ihr hübsches, rosafarbenes Kittelkleid, ihre blütenzarte Haut. Es folgt ein Augenblick erschrockenen Schweigens, dann beginnt sie zu weinen.
Er eilt zu ihr. Nimmt sie in seine großen, starken, neunjährigen Arme. Hält sie an sein grün– und bronzefarbenes Wams geschmiegt, das brandneu ist, ein Geschenk von Mama. Warum? Einfach darum.
Weil er anders ist… weniger… und weil er es nicht wissen, weil er sich nicht weniger geliebt fühlen soll.
Fane schluchzt an seiner Brust, geschüttelt von Wut ebenso wie von Angst. Ihre Rosenknospenhände ballen sich zu kleinen, knochigen Fäusten, und sie drischt damit auf die Luft ein. Sie ist ein reizbares Geschöpf, seine kleine Schwester. Sie will die Welt nach ihren Wünschen oder überhaupt nicht. Gerade zwei Jahre ist sie alt, und jeder, der sie kennt, weiß das.
»Es ist schon gut, Faney, bitte, weine nicht«, fleht er, während er sie mit ruckartigen Bewegungen in den Armen wiegt, um sie zum Lachen zu bringen. »Ich bin hier. Ich habe dich. Du brauchst nicht zu weinen.«
Sie bekommt einen Schluckauf. Schluckt zornigen Kummer herunter. Legt den kleinen Kopf in den Nacken, blickt in sein Gesicht und lächelt… und lächelt… und lächelt…
»Fane«, sagte Gar und öffnete die Augen. Sein Gesicht war feucht von Tränen. Hinter den schweren Samtvorhängen seines Schlafgemachs leuchtet die Vormittagssonne. Ein neuer Tag, beladen mit alten Problemen.
Durm war wieder in tiefe Bewusstlosigkeit versunken.
Als er es ihm gestern Abend erzählt hatte, war Nix vor Verzweiflung und Ungläubigkeit kaum in der Lage gewesen, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Er konnte es nicht verstehen. Noch am Morgen war es dem Meistermagier sehr gut gegangen. Er hatte widerstrebend akzeptiert, dass er am Nachmittag würde ruhen müssen. Hatte seine Medizin geschluckt und war gleich eingeschlafen. Nicht einmal Lord Jarralts kurzer Besuch hatte ihn gestört. Alles an ihm schien genauso zu sein, wie es sein sollte… und doch wachte er einfach nicht auf. Höchstwahrscheinlich würde er nie mehr aufwachen. Es wurde Zeit, das Inakzeptable zu akzeptieren: Lurs Meistermagier würde sich nicht erholen. Nix machte sich natürlich Vorwürfe, aber niemand trug die Schuld daran. Menschen starben, ob man es wollte oder nicht.
Eingehüllt in einen Kokon aus Decken, blickte Gar grübelnd zu der blassgrünen Decke empor. Wenn er diese bittere Pille schlucken konnte, konnte er auch eine andere schlucken. Musste sie schlucken, denn das war es, was Könige taten. Sie stellten sich unangenehmen Wahrheiten.
Seine Scharade als Wettermacher war vorüber.
Da Durm nur noch Tage – vielleicht Stunden – vom Tod entfernt war, konnte er sich an niemanden mehr wenden. Conroyd würde jetzt verlangen, dass man ihn zum Meistermagier machte, und da er keine vernünftige Möglichkeit hatte, die Ernennung zu verhindern, würde die Wahrheit seines magischen Versagens ans Licht kommen. Es gab keine Möglichkeit, dies noch länger zu verbergen. Er hatte gespielt, und er hatte verloren.
Die Pflicht verlangte von ihm, dass er noch an diesem Morgen zu Conroyd ging, eingestand, dass seine Magie ihn verlassen hatte, und dem Mann seine Krone anbot. Sein Königreich. Alles andere wäre nicht nur ein Verrat an seinem heiligen Eid, es würde auch für Asher die Gefahr einer Entdeckung bergen. Und das kam nicht infrage.
Conroyd zum König zu machen. Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich ihm die Kehle zu, seine Lungen pressten sich zusammen, und ihm brach der kalte Schweiß aus. Alles in ihm widersetzte sich, kämpfte gegen die Vorstellung, Conroyd zum König zu machen.
Stöhnend wälzte er sich aus dem Bett. Er erleichterte sich – es erinnerte ihn an Indigo Glospottle und entlockte ihm ein flüchtiges Lächeln –, kratzte sich die über Nacht gewachsenen
Weitere Kostenlose Bücher