König 01 - Königsmörder
in die sie Tanalblätter hatten versinken lassen, rührte sie in ihrer Sehschale die drei wirkkräftigen Drogen ins Wasser und öffnete ihr Herz. Sandte ihren fragenden Geist aus.
Asher. Asher. Asher.
Nur Augenblicke später fand sie ihn. Er hockte in sich zusammengekauert da und hatte Schmerzen. Eingepfercht wie ein Tier und geschunden von eben den Menschen, die zu retten er geboren worden war. Weinend berichtete sie Veira und Matt, was sie in der Schale sah, und hörte sie aufkeuchen. »Wir müssen ihm helfen«, flüsterte sie, während ihr die Tränen übers Gesicht rannen. »Wir müssen ihn retten. Können wir ihn retten? Ist noch Zeit dazu?«
»Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann«, sagte Veira, während sie die Arme um Dathnes Schultern legte. »Noch nicht. Aber eines verspreche ich dir, Kind. Wir werden es versuchen.«
»Wir müssen ihn retten. Können wir ihn retten? Ist noch Zeit dazu?«
Aufgewühlt von Dathnes verzweifelten Fragen, stand Veira vor dem Morgengrauen auf und ging auf Zehenspitzen in ihre kleine Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen. Wie eigenartig, wie ein Dieb durch das Haus zu schleichen, in dem sie siebenundzwanzig Jahre lang abgeschieden gelebt hatte. Aber sie wusste bereits, dass Matthias einen leichten Schlaf hatte; die vielen Jahre, in denen er mit Pferden und ihren launenhaften Krankheiten gelebt hatte, hatten seine Sinne geschärft. Über Dathne konnte sie diesbezüglich noch nichts sagen, aber die Chancen waren groß, dass das Kind genauso hellhörig war. Und da sie im Augenblick dringend Stille brauchte und ein wenig Zeit für sich allein mit ihren trostlosen Gedanken, war es am besten, wenn sie sich mäuschenstill verhielt.
Sie entzündete eine einzige Kerze, dann machte sie Feuer in ihrem Herd, um Wasser aufzusetzen. Draußen vor dem Fenster lagen ihr Garten, der Wald und die Berge noch immer im Dunkeln. Barls Mauer war ein Wispern von Gold, verloren zwischen den Sternen. Manchmal war es leicht zu vergessen, dass die Mauer dort war. Oder dass sie, Veira, ihretwegen hier war, gefesselt an eine versprengte Gruppe von nicht mehr ganz fremden Menschen, deren Leben sie mit einem einzigen gedankenlosen Fehler beenden konnte. Menschen, die sie kannten, ohne einander zu kennen, und die sich freiwillig in Gefahr begaben, um einer uralten Prophezeiung willen und um eines Lebens willen, das Jahrhunderte vor ihrer Geburt ein Ende gefunden hatte. Ihr Mut rührte sie zu Tränen, wenn sie es zuließ.
Die Wacht über den Zirkel war ihr drei Monate vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag zugefallen. Mit zwanzig hatte sie einen liebenswerten Jungen geheiratet, an dessen Gesicht sie sich nicht mehr erinnerte, mit dreiundzwanzig war sie eine kinderlose Witwe geworden, und sie hatte nicht den Mut gehabt, sich noch einmal auf eine Werbung oder eine Ehe einzulassen. Zumindest hatte sie für lange Zeit geglaubt, ihr Kummer sei die Ursache für ihre Zurückhaltung. Aber nachdem ihre Großtante Tilda gestorben war und ihr eine geheimnisvolle Schatulle und ein Vermächtnis hinterlassen hatte, das sie noch immer mit einigem Grund verfluchte, fragte sie sich, ob nicht die Prophezeiung ihre Wege bestimmt hatte. Ob sie ihr Leben und Schicksal nicht beeinflusst hatte, lange bevor sie sie brauchte. Um sie auf den Tag vorzubereiten, da sie sie brauchte. Auf diesen Tag, an dem finstere Entscheidungen getroffen werden mussten, damit nicht eine noch finsterere Zukunft Wirklichkeit wurde.
Der Kessel holte tief Atem und begann zu pfeifen. Sie riss ihn vom Herd und machte sich ihren Becher Tee. Während sie ihn zwischen den Fingern hielt und für einen Moment das Zwicken des Alters verspürte, ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch sinken, stützte die Ellbogen auf und grübelte über Dinge nach, die ihr das Herz brachen.
Nachdem sie Matthias und Dathne nur wenige Stunden zuvor zu Bett geschickt hatte, hatte sie nach einem anderen Mitglied des Zirkels ausgegriffen, Gilda Hartshorn, um sich die Wahrheit von Dathnes Sehung bestätigen zu lassen. Gilda, eine Schneiderin aus Dorana, nähte häufig für Angestellte des Palastes und der städtischen Wache. Sie besaß ein großes Talent, andere Menschen zu Klatsch und Vertraulichkeiten zu verleiten.
Es ist wahr, es ist wahr, alles wahr,
hatte Gilda ihr geantwortet.
Asher soll am Barlstag um Mitternacht sterben. Eine Proklamation des neuen Königs, Conroyd Jarralt.
Getrieben von einem unergründlichen Instinkt und in dem Wissen, dass sie zu seiner
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