König 01 - Königsmörder
Grund hattest, daran zu zweifeln, dass sie dort sein würde, wenn du nach ihr Ausschau hältst, ebenso wenig, wie du daran zweifelst, dass Luft da sein wird, wenn du morgens die Augen aufschlägst.«
»Gar…«
»Was bedeutet die Mauer dir, Asher? Was siehst du, wenn du sie betrachtest?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er verblüfft. »Sicherheit. Wohlstand.« Er zuckte mit den Schultern. »Magie.«
Gar blickte zu den goldenen Bergen empor. »Ich sehe den Altar, auf dem mein Vater sein Leben geopfert hat. Auf dem sich alle Wettermacher von Lur geopfert haben, Generation um Generation, bis zurück zu der Gesegneten Barl selbst, die ihr Leben für die Schaffung dieser Mauer gegeben hat. Ich sehe ein Schwert, das mich beginnend mit der heutigen Nacht jeden Tag aufs Neue schneiden wird, bis kein Blut mehr in mir ist, das ich vergießen kann. Ich sehe mein Leben und meinen Tod und die von Schmerzen durchtränkten Tage dazwischen, entboten als Bezahlung für die Übernahme eines Landes, das nicht das unsere war, und einer Gefahr, die an deinem Volk hätte vorbeigehen müssen und es nicht getan hat. Wegen meines Volkes.« Sein Blick wanderte für einen Moment zur Seite, bevor er wieder zu der Mauer hinüberschaute. »Das ist es, was ich sehe, Asher.« Asher runzelte die Stirn. Wieder einmal war Gar plötzlich ein Fremder geworden. Er schob die frierenden Hände in seine Taschen. »Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt es über dem ganzen Königreich regnen lassen?«
Gar riss mit einiger Mühe den Blick von der goldenen Mauer los. »Ich schätze, wenn ich es nicht versuche, werden wir es nie erfahren.« Er setzte sich wieder in Bewegung, und Asher schloss sich ihm an.
Eine halbe Meile später endete der Pfad auf einer kleinen Lichtung … in deren Zentrum die Wetterkammer des Königreichs stand. Als Asher sie sah, geriet er ins Straucheln, und sein Herz begann zu hämmern.
Der Geschichte zufolge hatte Barl selbst die Wetterkammer nach eigenem Entwurf erbaut und ihre letzten Lebenstage dort zugebracht, während sie die Wettermagie und die Mauer, die Lur bis zum Ende der Zeit gegen Übergriffe schützen sollte, erschaffen und vervollkommnet hatte. Aus dem gleichen Stein gebaut wie Gars Turm, besaß die Wetterkammer ein gläsernes Kuppeldach und bot einen unverstellten Blick auf den Himmel. Es gab keine anderen Palastgebäude in Sicht– oder Hörweite. Das Licht der Mauer schien hier näher zu sein, heller und dichter, als hätte die Wetterkammer auf irgendeine Weise die Macht, sie heranrücken zu lassen.
Er sah sich um. »Es sind keine Wachen hier.«
Gar schüttelte den Kopf. »Das ist auch nicht notwendig. Die Kammer ist durchtränkt mit Magie. Mein Vater pflegte zu sagen, sie fühle sich… lebendig an. Irgendwie weiß sie es, wenn sie nicht allein ist. Sollte ein Besucher mit böser Absicht hierherkommen, würde die Tür sich nicht öffnen, und keine uns bekannte Magie könnte daran etwas ändern.«
Er trat auf die Lichtung hinaus. Asher holte tief Luft und folgte ihm. Die Tür der Wetterkammer war aus schlichtem, unlackiertem Holz. Es gab keinen Griff, keinen Klopfer, kein Schlüsselloch oder Schloss. Gar zog die Brauen zusammen und tastete in seiner Erinnerung.
»Bei meinem letzten – meinem einzigen – Besuch hier war ich noch ein Kind«, murmelte er. »Durm hatte damals die Absicht, mich bald wieder herzubringen, um meine Ausbildung zu vertiefen…« Er presste die Lippen aufeinander und wischte sich die Hände an der Vorderseite seines schwarzen Gewands ab. »Ein weiterer Plan, der in Stücke gebrochen ist, zusammen mit allem anderen.« Mit diesen Worten warf er den Kopf in den Nacken, schlug mit den Händen gegen das Holz und drückte.
Die Tür blieb geschlossen.
»Sie klemmt nur«, meinte Asher, um das unbehagliche Schweigen zu brechen. »Es liegt wahrscheinlich an der Feuchtigkeit oder etwas Ähnlichem.« »Welche Feuchtigkeit?«, fragte Gar mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe es noch nicht regnen lassen.«
Er drückte abermals, fester diesmal. Wieder widersetzte sich die leicht knarrende Tür seiner Bemühung. Mit einem Laut, der wie ein Schluchzen klang, trat Gar zurück. Er starrte die Tür an, verwirrt und wütend und ein wenig ängstlich. »Öffne dich, verdammt noch mal! Ich bin der König, und ich
werde
mir Einlass verschaffen!« Er schlug mit der Faust gegen das Holz.
»Lass mich ein!«
Dann trat er wieder näher, legte die Stirn an die Tür und strich wie ein schmeichelnder Geliebter
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