Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde

Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde

Titel: Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
Vom Netzwerk:
sollten sich gut 175 Jahre nach Einführung des Zugverkehrs in Deutschland in einem kalkulierbaren Rahmen bewegen.
    Und von Naturkatastrophen, die den Zug aufhalten könnten, ist auf diesem Bahnsteig wenig zu bemerken. Abgesehen von den Lautsprecherdurchsagen.
    Und warum kommt die Bahn nicht auf die Idee, sich bei den Wartenden zu entschuldigen? Warum bietet man mir nicht an, in der nahen Bäckerei kostenlos einen Kaffee zur Überbrückung zu trinken? Weshalb kann ich mir Handygespräche, die ich nur wegen der Verspätung führen muss, von der Bahn nicht erstatten lassen? Oder mir, falls mein Reiseziel in der Nähe liegt, auf Kosten der Bahn ein Taxi nehmen, um Termine einzuhalten? Einen Anspruch darauf, dass mir ein Teil des Geldes erstattet wird, habe ich erst nach einer Stunde Verspätung – und natürlich nur auf bürokratischen Antrag hin.
    Das fette Staatsunternehmen hat zwar das große Einmaleins des Abkassierens erlernt: wie man Preise auf die Spitze treibt, Gewinne maximiert und jedem Fahrgast, der sich nicht durch ein achtsemestriges Studium mit den Tarifwissenschaften der Bahn AG vertraut gemacht hat, überteuerte Tickets andreht.
    Doch das Dollarzeichen in den Augen hat der Bahn den Blick auf die zweite Seite des Handelns in der Privatwirtschaft verstellt: dass der Kunde kein Opfer ist – sondern dass er Ansprüche hat, die es zu befriedigen gilt.
    Endlich, mit 35 Minuten Verspätung, rauscht der ICE auf den Bahnhof zu. Eine gefühlte Millisekunde, ehe der Zug da ist, ertönt wieder die Stimme aus dem Lautsprecher: »Achtung, falls Sie reserviert haben: Der Zug fährt heute in umgekehrter Wagenfolge ein.«
    Diese Mitteilung löst einen mittleren Tsunami aus, er flutet auf den Kasten mit der Wagenstandanzeige zu, stellt komplizierte Parallelver schiebungen an und schwappt dann auf den engen Bahnsteig, wo sich die Wege kreuzen: Koffer rollen über Füße, schwere Taschen stoßen gegen Schienbeine, angerempelte Menschen drehen Pirouetten.
    Preisfrage: Warum erfahren wir von der »umgekehrten Wagenfolge« erst in letzter Sekunde? Ist der Zug vor lauter Freude, endlich den Bahnhof zu erblicken, auf dem Gleis in die Luft gesprungen und hat sich um 180 Grad gedreht? Und wie soll ich an einen vernünftigen Informationsfluss bei der Bahn glauben, wenn nicht einmal eine solche Offensichtlichkeit beizeiten bekannt gegeben wird?
    Der Lokführer entschuldigt sich für die Verspätung. Damit sammelt er Punkte bei mir. Doch mit den nächsten Worten verspielt er sie wieder: »Wir informieren Sie im Laufe der Fahrt, welche Anschlusszüge Sie noch erreichen werden.« Warum sagt er nicht gleich, welche Züge weg sind? Das gäbe mir die Chance, meine Geschäftspartner rechtzeitig zu informieren.
    Wahrscheinlich behält der Lokführer diese Auskünfte für sich, um eine Meuterei an Bord zu verhindern. Auch liefe er sonst Gefahr, dass die Menschen von dem fahrenden Zug abspringen und auf zuverlässigere Transportmittel umsteigen. Zum Beispiel auf die Pferdekutsche.
    Eine halbe Stunde später hält der Zug auf offener Strecke: »Die Fahrt wird gleich fortgesetzt.« Muss der Lokführer zum Pinkeln in die Büsche? Eine Erklärung bleibt er schuldig. Zehn Minuten stehen wir. Dann rollt der Zug wieder an. In Nürnberg hat sich die Verspätung auf 50 Minuten gesteigert. Mein Anschlusszug ist über alle Berge.
    Doch ich will nicht jammern – manche Kunden müssen ganz andere Misshandlungen erdulden. Zum Beispiel 350 Fahrgäste eines Regionalzuges von Hamburg nach Lübeck, darunter drei Schulklassen mit Lehrerin. 19
    Kurz vor Weihnachten 2010 – draußen ist es eiskalt und der Schnee türmt sich – bleibt der Zug um 16.33 Uhr auf offener Strecke stehen. Die Passagiere sitzen fest: eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde. Niemand weiß genau, was los ist. Der Lautsprecher drischt Phrasen. Dann schweigt er. Die Bahn unternimmt nichts Erkennbares, nach anderthalb Stunden geht dem Notfall-Akku die Puste aus: Das Licht erlischt, die Heizung versagt. Die Temperatur in dem finsteren Zug sinkt im selben Tempo, wie die Panik der Fahrgäste zunimmt: Sie rufen um Hilfe, sie trommeln gegen Fenster, sie rütteln an Türen, einige schluchzen und weinen.
    Doch die Bahn spielt Gefängniswärter: Die Türen bleiben verriegelt. Schließlich könnte draußen im Dunkeln jemand stolpern. Außerdem lässt die Bahn auf dem Nachbargleis den Zugverkehr wie gewohnt rollen – statt einen dieser Züge zur Rettung zu senden.
    Man stelle

Weitere Kostenlose Bücher