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Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde

Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde

Titel: Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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sich das vor: Ein Zug, vollgepfropft mit Menschen, stockdunkel und eiskalt, steht in einer Winternacht auf freier Strecke. Der nächste Ort, aus dem Hilfe kommen könnte, ist nur einen Katzensprung entfernt: Tremsbüttel. Doch die Bahngäste sitzen fest wie bei einer Panne der sibirischen Eisenbahn im letzten Jahrhundert.
    Zweieinhalb Stunden vergehen. Die Lehrerin macht sich immer größere Sorgen um die Gesundheit ihrer Schüler. Unterkühlungserscheinungen breiten sich aus. In ihrer Not greift sie gegen 19 Uhr zum Handy und alarmiert die Polizei. Dort ist man verblüfft – die Bahn hat es in läppischen 180 Minuten nicht geschafft, einen Notruf zu senden. Sonst wären die Passagiere längst befreit und medizinisch versorgt worden.
    Um 19.30 Uhr treffen die Rettungskräfte an dem Geisterzug ein. Die Fahrgäste werden in das nur wenige Steinwürfe entfernte Gerätehaus von Tremsbüttel gebracht, wo sie mit heißen Getränken versorgt und mit Zuspruch beruhigt werden. Die Menschen sind völlig außer sich. Einige sind unterkühlt. Bei anderen spielt der Kreislauf verrückt.
    Und alle haben das gleiche Gefühl im Bauch: eine unsägliche Wut auf die Bahn!
    »WIR SUCHEN NICHT AKTIV NACH GEPÄCK!«
    Wo ist meine Flipchart-Rolle? Ich stehe auf dem Bahnhof in Göttingen, und ein Riesenschrecken durchzuckt mich. Langsam begreife ich: Die Rolle fährt gerade im ICE 583 Richtung München davon. Im Zug vergessen! Die Flipchart-Zeichnungen, die meine Seminare illustrieren, sind für mich als Coach so wertvoll wie die Schmuckauslage für einen Juwelier.
    Sofort recherchiere ich die Telefonnummer für Verlustfälle, 09 0 0 –1 99 05 99, und rufe an. Die Bahn sagt einen Minutenpreis von 1,49 Euro durch – und erklärt mir dann, als mein Geld schon durch die Leitung rattert, in umständlichen Worten: Dieses Gespräch werde aufgezeichnet, um die Servicequalität zu garantieren. Na toll!
    Dann, endlich, habe ich eine Frau am Telefon. Ich frage nach ihrem vollen Namen; sie heißt Anna Müller.
    »Ich bin gerade aus dem ICE 583 gestiegen. Leider habe ich ein wertvolles Gepäckstück vergessen.«
    »Was genau?«
    »Eine Rolle mit Zeichnungen, schwarz und etwa einen Meter lang.«
    »Steht Ihr Name drauf?«
    »Leider nicht. Aber ich kann Ihnen genau sagen, wo die Rolle zu finden ist: Wagen 27, Platz 34, in der Ablage überm Sitz.«
    Sie seufzt ein wenig: »Diese Angabe brauche ich nicht. Wir schauen nur, was an der Endstation gefunden wird. Wir suchen nicht aktiv.«
    Ich ringe um Fassung: »Aber, hören Sie, diese Rolle – die ist wertvoller für mich als meine Brieftasche. Jetzt können Sie das Gepäckstück noch sichern. In München ist es vielleicht schon weg.«
    »Wir haben jeden Tag über 500 Fundstücke. Da können wir nicht jedes Mal im Zug anrufen.«
    Ich kann mich nicht mehr zügeln: »Natürlich können Sie! Wenn man das auf die Zahl Ihrer Züge verteilt, ist das pro Zug ein Klacks – aber es wäre ein ganz wichtiger Service für Ihre Kunden.«
    »Tut mir leid. Ich muss mich an meine Vorschriften halten.«
    Das war’s. Ich bleibe auf dem Bahnsteig zurück, als hätte man mir gerade eine Ohrfeige verpasst. Dieses Verhalten erfüllt für mich den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Kein Wirt der Welt würde seinem Gast, der bei ihm die Brieftasche vergessen hat, am Telefon sagen: »Sorry, ich suche nicht aktiv – ich sammle nur ein, was nach Lokalschluss noch da ist.« Warum wagt die Bahn solche Unverschämtheiten?
    Am nächsten Morgen eine Mail: Mein Gepäckstück sei nicht gefunden worden. Ich platze fast vor Wut. Doch nachmittags nimmt die Bahn ihre Auskunft zurück: doch gefunden. Das nächste Geschäft: Fürs Zurücksenden knöpft man mir eine Pauschale von 20 Euro ab.
    Entgleiste Ausreden
    Als Kind von sieben Jahren war ich ein Meister im Erfinden von Ausreden. Während der Ball, den ich durch die Scheibe geschossen hatte, noch inmitten der Glasscherben lag, behauptete ich frech: »Da war schon vorher ein großes Loch drin.«
    Solche Kinderausreden durchschaut jeder. Doch auch die Deutsche Bahn, 92 Jahre alt (wenn man die Gründung der Reichsbahn als Geburtsdatum nimmt), ist sich für Ausflüchte dieses Niveaus nicht zu schade. Gut kann ich mich noch an eine Fahrt im Regionalzug in der Nähe von Frankfurt erinnern. Plötzlich hielt der Zug auf offener Strecke. »Wir warten noch auf einen entgegenkommenden Zug«, behauptete der Lokführer.
    Zehn Minuten vergingen, 15 Minuten. Doch es kam kein Zug. Der

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