König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
bewegen, wenn ich hier oben sitze. Glückliche Tage, wo sich die Tische beinah zum Fenster hinausstreckten, um sich beim Fall in tiefste Tiefen in Mützen zu verwandeln, am liebsten für die vielen Köpfe, die aus den Straßenbahnfenstern nirgendwohin schauen. Aber sogar der Reisende hat sich schon lange nicht mehr vor der großen Linde herumgetrieben, um mir einzuflüstern, wohin es gehen könnte und wie. Ich sehe ihn nicht, und schon stockt’s. Reisender! Wo bist du, und warum schweigst du so lange? Wie soll ich ohne dich meine Lehrzeit hier glücklich überstehen? Die Stricke ringsum die leeren Stühle in der Aula locken mich kaum noch, darüber zu steigen, und den Portier mag ich auch nicht mehr an seine ewige Aufgabe erinnern, uns zu unterbrechen. Er hört es ja doch nicht. Ich bin müde, Reisender, ich schlafe sehr schlecht, ich träume zu viel, und im Übrigen scheint’s mir purer Wahn, dass Flora, Justin oder ich retten werden, was in den Hörsälen vom Geist übrig blieb. Ein Witz ist es, weiter nichts! Ich zeichne in mein Notizbuch einen Baum, der von seinen eigenen Blättern umschwirrt und umwirbelt wird, wie aus Erbarmen mit seinen kahlen Ästen. Wollen sie nie und niemals am Boden landen? Was für ein Trugschluss. – »Lina, wach auf!« Flora rüttelt und schüttelt mich an der Schulter. »Lina, Großes hat sich getan, und ich muss es dir berichten. Aber nimm es mir nicht übel, ja? Nimm mir nur nicht übel, was ich dir erzählen darf und muss.« Ich lege je einen Zettel mit den Worten »womöglich auch morgen noch vonnöten« auf die beiden Bücherstapel und folge Flora hinaus auf den Gang zur großen Kaffeemaschine, wo Justin sitzt und ins Leere schaut. »Ich bin in Professor Steins Dienste aufgenommen, vertraglich. Und wisst ihr, was sie mir gesagt hat? Ich möchte euch davon erzählen, denn vielleicht kommt auch für euch der große Tag, und dann sollt ihr vorbereitet sein durch mich und wissen, wie ihr zu reagieren habt: Flora Tauber, hat sie gesagt, ich freue mich aus ganzem Herzen, Sie in meinen Diensten willkommen zu heißen. Ich bin fast sicher, dass Sie sich der Verantwortung würdig erweisen werden, die zu tragen hat, wer hier ein- und ausgeht. Freilich, hinausgehen werden Sie immer spät, sehr spät. Sie wissen doch, die Bücher mit sich zu tragen, ja, auf dem Rücken, in der tiefen Seele, das ist mehr als Arbeit, das ist Sendung, Berufung, und einer Berufung hat man sich zu stellen, indem man sie durch spätes Nachhausegehen bestätigt. Was ist denn ein Zuhause im Verhältnis zu einem Büro? Vorläufig liegt Ihres im Keller, und allzu viel Licht wird’s nicht geben darin. Aber wozu braucht eine Lampe, wer ein Büro hat? Das Büro selbst ist die Lampe, und wunderschön strahlt sie zum Volk hinaus. Groß wird der Tag, an dem Sie zum ersten Mal einen Dichter überführen. Aber haben Sie Geduld, denn Geduld ist es, was wir hier alle brauchen!‹« Tränen rollen über Floras Wangen, ich krame nach einem Taschentuch und halte es ihr hin. Justin fischt aus seiner Tasche Papier und Schere, schneidet eine Krone daraus und setzt sie Flora auf den Kopf. Aber ist das hier noch Flora? Oder mehr schon Professor Steins Schatten, ihr trauriger Kindschaftsschatten? Mir wird bange vor einer Zukunft, die nicht meine ist. Von meiner Zukunft weiß ich nichts und will ich hier und jetzt nichts wissen. Ich möchte nachhause und die Lampe aus dem Gedicht fragen, ob sie noch da sei.
Nichts und noch einmal nichts hat sich geändert in der Allee, durch die ich in mein Zimmer flüchte, außer, dass die Bäume nun wirklich schon ganz kahl geworden sind. Oder waren sie das letzte Mal schon genauso kahl? Irgendwann werde ich in einem der Häuser, das ich im Vorbeigehen streife, ein Fest gefeiert haben, und hockend auf dem Küchenboden, vielleicht an Jakobs Schulter, übrig geblieben sein. Ein bisschen Wein ist noch in einer der Flaschen unter dem Tisch, und zum Fenster herein singt Musik, Musik, und irgendjemand rezitiert wieder ein Gedicht aus unsern Kindschaftstagen, das Gedicht vom Sieb und der Ofenkachel. Und der Reisende zieht mich an der Hand hoch und murmelt Tanzen wir, Lina, in mein Ohr. Und obwohl ich schon sehr, sehr müde bin (immerhin schaut der Tag schon fast zur Tür herein, ob durch die hintere, wird sich erst weisen), tanze und tanze ich, denn tanzen kann ich ohne Zukunft und in großer Müdigkeit auch, und kann sein, sogar besser. Vielleicht auch nicht, vielleicht irgendwann nimmer, aber um dieses
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