König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
vor dem Sterben von Verwandten. Und habe ich Dich nicht immer meinen Lieblingsonkel genannt? Ich weiß nicht, ob ich schon begriffen habe, dass Du tot bist. Ich kann mir alles so schwer vorstellen. Darum verabschiede ich mich jetzt von Dir, in einem Brief in meinem Tagebuch, denn wenn ich auch nicht weiß, weshalb, so möchte ich doch auch zu Deiner Beerdigung nicht kommen und kann den Brief nicht ins Grab werfen. Übrigens lehne ich gerade am Heizkörper und ziehe die Knie an. Ich will versuchen, mich an etwas zu erinnern, mich an etwas Schönes mit Dir zu erinnern. Nur wir beide wissen, dass ich da nicht lange suchen muss. Weißt Du noch, wie ich einmal als Kind eine ganze Woche bei Dir und Deinen erwachsenen Kindern verbrachte? Einmal haben sie im Keller ein Fest gefeiert, und weil ich so lange nicht einschlafen konnte (bei jedem Schlag der Kirchturmuhr wurde mir so bange zumute), stand ich auf, klopfte an Deine Tür und bat Dich, mir etwas zu erzählen oder vorzulesen und meine Hand zu halten, bis ich eingeschlafen sein würde. Und ich war so froh und erleichtert und hatte so großes Vertrauen. Du gabst mir ja auch gar nicht das Gefühl, Dich zu stören. Lieb von Dir. Ich bin sicher, dass ich endlich ganz schnell einschlief und die ganze Nacht über nicht mehr erwachte. Einmal sah ich so helle Flecken an der Wand, das Licht der Straßenlaternen wollte wohl herein. Aber ich schlief ja, ich schlief sehr fest, und am nächsten Morgen, als ich in dem Bett erwachte, in dem ich vergeblich versucht hatte, einzuschlafen, wusste ich nicht mehr, ob ich nur geträumt hatte, dass ich bei Dir war. Hab ich denn nicht nach den Dingen gefragt, die mir sonderbar erschienen? War’s mir nicht sonderbar? Kurzum: Ich danke Dir dafür und für alles andere auch, und wünsche Dir, dass Du es gut hast, wo immer Du bist. Und verzeih mir bitte, dass ich mich nicht von Dir verabschieden kam, von Angesicht zu Angesicht. Ich weiß selber nicht, warum. Aber muss ich das wissen? Wozu? Ich werde Dich wohl noch lange nicht vergessen. Lina.«
Die Frau am Fenster liest den Brief jetzt laut, sie trägt ihn der Straße vor, ob sie will oder nicht, und mit jedem Wort wird das Dunkel um sie herum heller und heller, und ein schmaler Atemschacht gräbt sich durch sie hindurch von Kopf bis Fuß. Und dabei sieht man es kaum, das beinah erloschene Feuer im Bild. Unglück, bist du noch da? Und Feigheit und Lüge, ihr auch? Ich schließe die Augen und halte mir die Ohren zu und streiche mit den Händen über meine Hose. Ich will nichts mehr hören, ich will nichts mehr sehen, und ich will mich an nichts erinnern. Augenblick meines Vergessens! Jaja, sehr schön. Was für eine Stimmung, was für ein Fest! Ja, sehr schön, sehr schön. Ich stampfe mit meinem Fuß auf den Holzboden. Muss ich denn hier sein? Muss ich hier sein und sehen und hören, was für merkwürdige Briefe ich an einen Toten geschrieben hatte, von dem ich mich nicht verabschieden wollte? Ich nehme das Tagebuch aus der Hand der Frau am Fenster und reiße den Brief an die Straße heraus. Ich schließe das Fenster und wiederhole flüsternd vor mich hin, dass jetzt gleich, jeden Augenblick, um mich herum mein Zimmer wieder dunkler wird und sich die Lampe in ein kleines Feuer verwandelt, das im Kamin brennt, aber nicht mehr lange. Bevor es erlischt, wird die Frau am Fenster jemand anders sein, eine Erinnerung an etwas Unbestimmtes, das hinter ihr liegt, das zu ihr kommt.
Nun hab ich also Veränderungen in meinem Zimmer vorgenommen, wirkliche Veränderungen? Die Bank steht nicht mehr vorm Fenster, sondern an der Wand, und auf ihr liegen ein paar alte Tagebücher, und in einem davon fehlt von nun an ein Blatt, mein Brief an einen Toten, den Brief einer Frau am Fenster an die Straße. Wieso sollte ich, wenn mir solche Alltäglichkeiten glücken, nicht auch die große Prüfung am Institut für Gedankenkunde und Verstehen überaus erfolgreich bestehen? Das wäre doch wirklich gelacht. Ich muss nichts weiter tun als Frau Professor Stein sagen, dass ich nicht in ihre Dienste treten oder nicht länger in ihren Diensten bleiben wolle, weil’s gleichviel sei, ob ich Mundschenk würde oder Dichter oder Hofnarr oder Moderator-Mediator oder Professor. Hier wie da muss ich, um nicht ebenso verrückt zu werden wie der König, denselben an der Nase herumführen, gleichviel, in welchem Kostüm. Alles gleichviel, gleichviel, alles was andres, was Andres, nicht wahr? So lautet das Sprüchlein an der Wand. Und
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