König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Tage und Nächte kommen und gehen, und Schläge aus Kirchturmuhren führen dich einer vertrauten Hand zu, und der König liegt ohnmächtig, nachdem er den Mundschenktanz in seinem schwermütigen Zorn zunichte gemacht hat. Und frei ist der Mundschenk, der erkennt, dass er nichts anderes will, als weitertanzen. Weil’s so schön ist? Weil’s unendlich schön ist? O ja, ja, weil’s so unendlich schön ist. Ich glaube (siehst du, Reisender, ich glaube immer noch), das Leben der Nachbarin aus dem gegenüberliegendem Haus ist meinem sehr, sehr verwandt. Sie wandelt als Silhouette durchs Zimmer und pfeift auf den Spiegel, und wirklich wird ihr, was zu ihr kommt, weil’s schon einmal da war, meinetwegen im Halbschlaf. Ja, wer kann ausschließen, dass das Institut für Gedankenkunde und Verstehen sich noch einmal in ihre Wohnung schleicht, verkleidet als Publikum, ja, als Volk, um von ihrem Fenster auf meines zu sehen: Ob’s wahr sei, dass hier ein Blatt mit einem Teller und einer einsamen Rosine klebe? O ja, ich sage euch, da hängt es immer noch, gleichviel, ob Professor Icks alles vergessen hat, den geteilten Kuchen sowohl als alle Rosinen der Welt. So unerwartet unausweichlich kann’s im Leben kommen, und unser Prinz auf dem Weg in die Arme eines Schicksals, dem er entkommen wollte, hat es auch schon gewusst, und alle Feen, die zur Taufe des lieben Kindes nicht geladen worden sind, sowieso. Aber entschieden hat sich keiner? Gewollt hat es keiner, dass alles irgendwie komme? Vielleicht treffe ich die Nachbarin eines Tages auf der Straße und lade sie zu mir zum Tee ein, denn es könnte sein, sie hat Verständnis für das Gedicht an meiner Wand, das kopierte Bild mit meiner mäßig originellen Schriftspur drauf und das Blatt mit dem Rosinenteller, das die Sicht von ihrem in mein Zimmer so schön behindert. Wenn zwei nachts in ihrer Wohnung herumwandeln wie in einem Traum und Silhouetten sehen, haben sie einander bestimmt schon einmal im Schlaf besucht, und wie werden sie überrascht sein bei der ersten wirklichen Begegnung. Wäre das nicht ein Grund zur Freude, Lina? Hm? O ja, und die Freude mit Jakob zu teilen, denn ein wirklicher Freund ist, wer nicht nur das Leid, sondern die Freude teilt.
Lieber Jakob, eben wandelte mich schon wieder die Lust an, die Weisheit eines Kalenderblattes zu überflügeln – womöglich eine Reaktion auf etwas, das mir heute beinahe unvermittelt geschah, ja, ganz unerwartet. Mir war so nach Asche zumute, nach einem glücklichen Verbrennen, nach einem Verbrennen, das ich mit meinem ganzen Herzen bejahe, weil nur darin alle Freiheit liegt. Dann fiel mir ein Tagebuch in die Hände, das ich viele Jahre nicht aufgeschlagen und an das ich alle Erinnerung verloren hatte. Ein Brief an die Straße war da, ein Brief an einen Verstorbenen, und kaum, dass ich ihn gelesen hatte, einmal leise, einmal laut, wollte ich das Blatt heraus reißen und zunichte machen, für immer, und ganz heiß wurde mir und dann sehr kalt und noch einmal heiß und wiederum kalt, und in solcher Abwechslung blieb es. Mich befremdeten meine eigenen Worte so sehr, ja, irgendein Schrecken war da, aber nicht sehr deutlich. Das habe nicht ich geschrieben, das war ein anderer, wollte alles in mir rufen. Und wer hat erlaubt, dass es einen Schrecken gibt, der sich nur vage andeutet, ohne seinen Willen ganz unmissverständlich zu offenbaren? Niemand hat’s erlaubt! Niemand, verstanden? Gleichwohl wird’s so sein müssen, dass ein undeutlicher Wille eben durch die Hintertür kommt, sozusagen nachts, während du träumst, in den besten Händen. Vielleicht hat etwas in dem fremden Willen auch geschlafen? Ja, vielleicht hat sich das Bewusstsein in den Händen zur Ruhe gelegt. Am Institut für Gedankenkunde und Verstehen fehlt den Köpfen, die alles wissen, ja auch mitunter das Bewusstsein für das, was sie wissen. Oder sie scheren sich nicht weiter drum, dass ihr Bewusstsein nicht bis in ihre Hände und Fingerspitzen dringt, jetzt, wo ohnehin endlich alles »unentscheidbar« geworden ist. Aber in meinem Leben ereignen sich eben Dinge, die ich nicht verstehe und kleine Szenen, die ich lieber für Dichtung halten möchte. Aber haben die Dichter etwa die Dichtung erfunden? Was, wenn sie ihnen zuvor kam, um ihnen unmissverständlich ihre wahre Bestimmung einzuhauchen? Immer Traum, Halbwachheit zu bleiben? Und die Wirklichkeit, den fremden Willen, später, Jahrzehnte danach, zu spät, durch die Hintertür hereinschleichen zu lassen? Damit
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