König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
wahr wird, was es niemals gegeben hat? Und dann? Nein. Nein. Wie gut und fest ich geschlafen haben muss, viel, viel besser als in kommenden Nächten. War’s Glück, so tief zu schlafen? O ja, ich glaube schon, unbedingt. Lina
XXII.
Endlich sitze ich wieder einmal im Lesesaal und lese einen Dichter. Wo habe ich das gelesen? Eine kleine Hymne auf Lesesäle und Bibliotheken und Dichter und Leser, auf Könige, Hofnarren und das Volk. Nur die Moderatoren kamen nicht vor, die großen Vermittler zwischen dem Wissen und dem Unwissen. Warum nicht? Ich habe auch schon Engel in Lesesälen gesehen, die sich über beinahe Schlafende beugten, um sie zu ermutigen oder zu beruhigen oder aber etwas anderes Schönes an ihnen zu tun. Sogar ein alter Erzähler schleppte sich einmal Stufen hinauf und erinnerte daran, dass es mit der »Kindschaft des Menschen« vorbei sei, wenn die Welt erst ihren Erzähler verloren habe. Wahrscheinlich war mir im Kino nach Weinen zumute, was noch lange nicht heißt, dass ich geweint habe. Komisches Wort »Kindschaft«. Genauso komisch wie mein Brief an die Straße und meine Einschreibung am Institut für Gedankenkunde und Verstehen . Und doch auch eine ausgesprochen schöne Erfindung! Wenn das alles nicht schön gewesen wäre, dann wäre mir doch nicht nach Weinen zumute gewesen? Jetzt hingegen muss ich schon wieder fast lachen. Und zum Lachen ist das hier aber wieder nicht der passendste Ort. Man darf die ruhig und entrückt Lesenden nicht so einfach mit einem Lachen stören. Und schon gar nicht jetzt, wo Professor Icks zur Tür herein kommt, beschwingt wie der Wind selbst, und sich umsieht, als suche er etwas. Bestimmt braucht er ein Buch, das im Regal neben mir steht, und während er sich dann anlehnt und die Bücher der Reihe nach aus dem Regal nimmt, sinnend, ob vielleicht ein einziges dabei sei, das ihm Wahres sage und an dem er nicht vor lauter Glätte schon am Buchrücken abrutsche, kann ich mich ungestört in meinen Schal zurück ziehen und mir ein neues Mundschenkstückchen ausmalen. Oder aber ich gleite schnell wieder aufs gefrorene Eis hinaus und summe ein wenig, denn – so viel steht mittlerweile ganz außer Zweifel – ich habe hier das Summen zum Eiston gelernt, eine Kunst, die fast keine Kunst und zarter und leichtfüßiger und unmittelbarer und indirekter ist, als Striche auf Blättern es sind, die die liebe Kindschaft hinterlassen hat. In meinem Zimmer strahlt von einem Gedicht an der Wand feines, mildes Licht, und ein blauer, ganz geheimnisloser Winterfarbton macht, dass alles vergeht, alles so zauberhaft verschwindet, während ich über ein Schneefeld gehe und mich freue, weil der Horizont in eine Ferne gerückt ist, die ich mit jedem Schritt einhole. Macht nichts. Es gibt eben Dinge, die wir alle nicht verstehen, und Abhänge, die wir auf dem Kopf hinuntersteigen, womöglich nicht nur, weil wir davon gelesen hatten, bevor wir unsern Fuß über die ehrwürdige Schwelle des Instituts für Gedankenkunde und Verstehen setzten. Niemand nenne ein solches Schicksal ein trauriges! Komisch ist es und leicht und ganz dazu angetan, auf die Straße hinausgehen und dem Volk, das in meiner Gestalt allerdings bereits auf dem Sofa eingeschlafen ist (endlich, endlich), zuzurufen, wie heilsam es sei, damit aufzuhören, sich die Köpfe am Unausweichlichen, ja am Unendlichen zu zerbrechen. Komme es, wie es mag, komme es, wie es muss, aber anders anders. Und unbedingt anders als die ewigen Moderatoren-Mediatoren, die Einführer und Freunde der Dämmerung es behaupten. Allerdings bin ich ja auch und unbedingt eine Freundin der Dämmerung, schon von der ersten Stunde an. Was ist denn meine Unsicherheit bezüglich der Aufnahme am Institut für Gedankenkunde und Verstehen im Verhältnis zum Wunsch, hier spazieren zu gehen, hier, in den Himmelreichen der andern, dem unendlichen Papier? Nichts ist sie im Verhältnis, gar nichts. Mich weist sie in die Zukunft, in eine Zukunft, die ich gar nicht und überhaupt nicht vorhersehen kann und die daher die schönste aller Zukünfte sein wird.
Aber vorher habe ich noch ein paar Dinge zu tun, auf die ich mich sehr gut verstehe. Das eine oder andere Buch will ich noch lesen und kleine Aufsätze verfassen, und meine Figur, meine allerliebste Figur, diesen tapferen Märchenabgesang, ins Büro von Herrn Professor Icks hinein schicken, auf dass sich das Wesen der Wörter selbständig mache. Nur in mir wird’s manchmal so still und will sich nicht vor und zurück
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