Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
fröstelte es den Jungen. Zu frisch noch waren die Erinnerungen an die eisigen Alpenpässe, die sie erst vor wenigen Tagen hinter sich gelassen hatten. Wieder klang das Donnern der Lawine in seinen Ohren, die den halben Tross und mit den Maultieren auch drei seiner Kameraden in die Tiefe gerissen hatte. Kaum mehr als eine Woche war seitdem vergangen.
Staunend blickte Rother zu den blühenden Ästen hinauf. Er zupfte einige der Blütenblätter aus der Mähne seiner Stute, zerrieb sie zwischen den Fingern und schnupperte dann an seiner Hand wie ein Jagdhund, der sich vergewissern wollte, seine Fährte nicht verloren zu haben. Es war der Duft des Frühlings! Noch nie hatte er gesehen, dass der Winter so schnell wich. Das verlorene Paradies, das die Bibel beschrieb, konnte nicht prachtvoller gewesen sein als dieses Land mit seinen weiten Feldern, den endlosen Obstgärten
und sanften Hügeln, an deren Flanken die Rebstöcke Spalier standen wie ein Heer, das aufmarschiert war, seinen Herrn zu grüßen. Wie konnte so ein wundervolles Land nur des Kaisers aufsässigste Untertanen hervorbringen?
Ob er jemals zu den Rittern gehören würde, die für Friedrich Rotbart kämpften? Obwohl Rother gar nicht der Jüngste und Kleinste unter den Knappen des Heeres war, hatten seine Kameraden ihm den abfälligen Titel Zwergenritter verliehen. Zu dünn und schwächlich hatte auch Wibald, der Waffenmeister seines Vaters, ihn immer gescholten. Doch danach hatte der alte Krieger ihm stets das blonde Haar zerzaust und erklärt, er solle sich nur ein wenig gedulden, wachsen würde er gewiss noch.
Rother hörte hinter sich die Rufe seiner Gefährten. Kurz blickte er über die Schulter. An der Spitze der kleinen Schar ritt der hünenhafte Anno und winkte ihm. Dichtauf folgten Heinrich und Ludwig. Die drei Ritter waren am Morgen vom Erzbischof als Vorhut ausgewählt worden, und Anno hatte es Rother gestattet, mit ihnen zu reiten. Wie eine Glucke ihr Küken, so hüteten ihn die Ritter. Manchmal hatte Rother das Gefühl, in ihrer Gegenwart kaum noch atmen zu können. Trotzig hieb er seiner Stute die Fersen in die Flanken. Man würde ihn ohnehin schon schelten, weil er so weit vorausgeritten war. Was spielte es da für eine Rolle, wenn er noch ein Stück dahinpreschte, um als Erster zu sehen, was auf der anderen Seite des Hügels lag?
Als Anno seinen Hengst vor der Scheune zügelte, hätte er Rother am liebsten am Ohr gepackt und auf den Hof gezerrt, um ihm eine gehörige Tracht Prügel zu versetzen. Anno verfluchte den Tag, an dem er sich vom alten Reuschenberger
hatte überreden lassen, dessen Sohn mit auf den Kriegszug nach Italien zu nehmen.
Der große, vierschrötige Ritter streckte sich. Das Gewicht von Waffen und Rüstung war noch ungewohnt. Erst seit sie vor ein paar Tagen lombardischen Boden betreten hatten, ritten die Gefolgsleute des Erzbischofs in voller Rüstung.
Mürrisch schwang Anno sich aus dem Sattel, als er bemerkte, warum Rother wie angewurzelt bei der Scheune stehen geblieben war. An einen Pfahl gefesselt hing ein Mann, halb in die Knie gesunken. Ein Dutzend Pfeile ragten aus seiner Brust. Das Blut auf seinen Kleidern war noch nicht ganz eingetrocknet. Vor ein paar Stunden hatte der Kerl noch gelebt.
Rother begann vor Ekel und Entsetzen zu würgen. Hinter dem Jungen erschienen die Schatten seiner beiden Kameraden im Scheunentor. Der bärtige, sonst so zurückhaltende Heinrich legte ihm den Arm um die Schulter und brachte den Knappen fort.
»Haben wir also das Ziel unserer Reise schon erreicht …«, sagte Ludwig leise. Er war neben den Toten getreten und berührte ihn sanft mit den Fingern.
Für Anno war Ludwig von Firneburg nichts als ein Stutzer. Der dunkelhaarige Ritter kleidete sich stets, als würde er in der nächsten Stunde zu einer Audienz beim Kaiser erwartet. Auch verstand er es wie kein anderer, den Weibsbildern mit schönen Worten den Kopf zu verdrehen.
»Welches Ziel haben wir erreicht?«
Ludwig nickte knapp in Richtung des Toten. »Sieht ganz so aus, als hätten wir nach tausend Meilen endlich den Krieg des Kaisers eingeholt. Was meinst du, wer das war? Ein lombardischer Plünderer?«
Statt einer Antwort packte Anno den Kopf des Toten bei den Haaren und hob ihn an, so dass das Wappen auf dem Waffenrock zu sehen war.
»Der rote Löwe!« Ludwig trat einen Schritt zurück und blickte zum Scheunentor.
»Das Wappen des Herzogs von Berg«, bestätigte Anno. »Einer seiner Kriegsknechte, vielleicht ein
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