Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
lagen da. Es war ein Wunder, wie gut sie sich erhalten hatten. Selbst der Tod schien vor ihnen Respekt zu haben! Nur Ingerimm nicht. Er machte sich an dem bärtigen Heiligen zu schaffen. »Es ist noch da!« sagte er. »Niemand hat es entdeckt!«
Hartmann bekreuzigte sich. Mochte Gott ihm vergeben, dass er sich zu dieser schändlichen Tat hatte hinreißen lassen!
Vorsichtig schloss Ingerimm den Schrein. Dann trat er an eine der großen Weihkerzen, die auf mächtigen Bronzeständern ragten. Der Ritter folgte ihm.
»Es ist eine Tafel aus dünnem Blei«, erklärte Ingerimm. Das Metall war schwarz angelaufen. Ingerimm schüttelte den Kopf. »Bei diesem Licht ist nichts zu erkennen.« Er rieb die Tafel vorsichtig über sein Hosenbein, bis sich die dunklen, eingravierten Buchstaben deutlicher gegen die nun heller schimmernde Oberfläche abhoben. Angespannt starrte der Alte auf die fremdartigen Buchstaben. Hartmann blieb der Sinn des Textes verschlossen. Es waren sechs Zeilen.
Ingerimm murmelte leise etwas vor sich hin und stöhnte auf. »Ich habe es geahnt!« In seiner Stimme klang kein Triumph, kein Stolz darauf, das Rätsel endlich gelöst zu haben. »Ich wollte es nicht glauben, obwohl schon das Studium des Josephos-Textes keinen anderen Schluss mehr zuließ.«
»Was steht dort?«, drängte Hartmann.
Der Alte räusperte sich. Schließlich begann er mit feierlicher Stimme den Text zu übersetzen:
MÖGE DEIN STAMM VERLÖSCHEN,
MÖGE DEIN KÖNIGTUM ZERFALLEN,
UND MÖGE DEIN NAME FÜR ALLE ZEITEN
VOLL ABSCHEU GENANNT WERDEN,
HERODES,
AUS DEM GESCHLECHT DER HASMONÄER,
TYRANN VON JUDÄA.
Für einen Moment vermochte Hartmann keinen Gedanken zu fassen. »Das kann nicht sein«, flüsterte er dann atemlos.
Ingerimm schien nicht so entsetzt zu sein. »Wenn du den Josephos-Text liest, den ich in unserer Kammer in der Schenke zurückgelassen habe, wirst du akzeptieren müssen, dass es die Wahrheit ist. Josephos beschreibt den Tod des Herodes und wie seine Leiche in einem großen Trauerzug von Jericho ins Herodeion gebracht wird. An jenen Ort also, an dem Zenon, Anno, Ludwig und ich diesen Leichnam fanden. Und es muss auch der Ort sein, den die heilige Helena aufgesucht hat. Wenn du den Text ihrer Heiligenvita studierst, wirst du eine Beschreibung des ungewöhnlichen Hügels finden, der seltsam regelmäßig und wie von Menschenhand erschaffen scheint! Ein Irrtum ist ausgeschlossen.
Ich bin Monate durch Outremer gereist. Nie habe ich einen anderen Hügel gesehen, auf den diese Beschreibung gepasst hätte! Dies hier ist Herodes! Seit fünfundzwanzig Jahren verehren die Cölner ihn, der den Mord am Christuskind befohlen hat und den man einen der bedeutendsten Propheten des Antichristen nennt, als Heiligen!« Ingerimm drückte ihm die Bleitafel in die Hand. »Dein Erbe, Hartmann. Du hast mir einen Eid geleistet! Wirst du dem Kaiser die Beweise vorlegen? Wirst du dieser Verhöhnung des Christentums ein Ende bereiten?«
Sosehr sich Hartmann dagegen sträubte, die Worte des Alten anzuerkennen, so unumstößlich erschienen die Beweise. Ingerimm hatte sein Leben für diesen Augenblick gelebt. »Warum hast du es nicht getan?«, fragte der Ritter. »Und warum bist du nicht früher hierher zurückgekehrt, um diese teuflische Bleiplatte zu holen?«
»Ich wollte wissen, was die Anmerkung Josephos in der Vita Helenas bedeutete.«
»Du hattest Angst! Gib es doch zu, alter Mann. Genauso, wie du Angst hattest, Clara zu sagen, wer du wirklich bist!«
»Sprich nicht von dem Mädchen!«
»Das Mädchen? Sie ist eine alte Frau geworden! Und sie hat ein Leben lang auf dich gewartet. Auf dich, der du selbstherrlich entschieden hast, dass sie dich nicht mehr haben will!«
»Hast du vergessen, wie entstellt ich bin?«
»Und wäre es nicht trotzdem ihre Entscheidung gewesen, dich zu verstoßen? Wenn sie es getan hätte, dann wäre sie befreit gewesen. Sie hätte noch ein Leben gehabt, wenn du dich ihr vor fünfundzwanzig Jahren gezeigt hättest. Und was wäre gewesen, wenn Clara dich nicht verstoßen hätte?
Dann hättest du euer beider Leben verschenkt, du verbitterter Greis!«
»Was weißt du schon vom Leben und vom Leiden?«
»Ich weiß, wer du bist, Ingerimm! Du hast es mir schließlich vier Tage lang erzählt. Du bist ein Mann, der fortläuft. Nicht vor Gefahren, denen man sich mit dem Schwert stellen könnte, sondern vor deiner Liebe zu Clara. Und nun lädst du dies bleierne Erbe auf meine Schultern! Fünfundzwanzig Jahre hast du es
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