Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Füßen. Ein falscher Tritt, und eine Lawine würde in den Kanal donnern und genug Lärm machen, dass man es noch bis zum Domplatz hörte.
Von jenseits des Walls aus Schutt erklang schrilles Fiepen. Ein leichter Luftzug ließ die Flamme von Rothers Öllämpchen erzittern. Doch statt das Atmen zu erleichtern, verdichtete der Lufthauch den miasmatischen Gestank noch. Halb stolpernd, halb springend, bahnte Rother sich einen Weg über die Einsturzstelle und landete mitten unter wild quiekenden Ratten. Mit einem weiten Satz versuchte er, den umherhuschenden Nagern zu entkommen, und
trat dabei auf einen seltsam weichen Gegenstand. Sein Fuß knickte um, er verlor vollends das Gleichgewicht und stürzte. Das Öllämpchen glitt ihm aus der Hand, schlug klirrend auf den Boden und erlosch. Beim letzten Aufflackern des Lichtes sah er noch, was die Ratten in den Tunnel gelockt hatte. Rother kauerte am Fuß eines mehr als mannshohen Leichenbergs. Überall auf den Toten sprangen ölig glänzende Ratten herum und blinzelten ihn mit kalten schwarzen Augen an. Mit einem panischen Keuchen versuchte der Knappe, von dem Berg aus Leichen fortzukriechen. Überall um ihn erklang das bedrohliche Fiepen der Ratten. Kleine, scharfe Krallen streiften seine Hände. Hier hauste der Tod! Ja, in dieser Höhle hatte der Sensenmann leibhaftig seine Wohnstatt genommen! Und Gott bestrafte ihn, Rother, für all seine Lügen und den Hochmut, den er an den Tag gelegt hatte, indem er ihn in dieses Höllenloch schleuderte. Ja, ein Höllenloch! Dies konnte kein Ort auf Erden mehr sein.
Auf allen vieren kriechend, schob Rother sich durch die Finsternis, begleitet von einem Chor aus schrillem Rattenquietschen.
Die drei Reiter zügelten die Pferde, als im Osten das erste Morgenrot den Himmel in blasses Rosa tauchte. Anno deutete auf die Stadt am Horizont. »Ich glaube zwar nicht, dass er sich ausgerechnet hier in der Gegend von Mailand verstecken wird, aber trotzdem sollte einer von uns zurückbleiben und sich bei den Posten umhören. Vielleicht ist Rother irgendjemandem aufgefallen.«
Ludwig, der sich fühlte, als habe ein Grobschmied die ganze Nacht über seinen Kopf als Amboss benutzt, räusperte sich leise. »Das ist die rechte Aufgabe für mich.«
Die beiden anderen bedachten ihn mit missmutigen Blicken. Schließlich nickte Anno. »Bleib hier! Du siehst ohnehin so aus, als würdest du gleich aus dem Sattel kippen. Wir werden uns in zwei Tagen bei Sonnenaufgang auf diesem verdammten Hügel treffen. Heinrich, du reitest nach Osten in Richtung Bergamo. Ich selbst werde die Nordstraße nach Varese nehmen.«
Ohne ein Wort des Abschieds ritten Heinrich und Anno davon. Ludwig fluchte stumm vor sich hin. Annos Verhalten war einer Beleidigung gleichgekommen, die er am liebsten mit dem Schwert beantwortet hätte. Aber er sollte sein Temperament besser zügeln. Er brauchte die beiden Ritter noch. Und ihre Mission für den Fürsterzbischof musste ein Erfolg werden!
Traurig blickte er über das verwüstete Land. Ein Spiegel seiner Seele. Nur mit Hilfe des Fürsterzbischofs durfte er hoffen, seine Stiefschwester jemals wiederzufinden und dem Kloster zu entreißen. Ein Wort Rainalds würde genügen, all jene Schranken niederzureißen, die für ihn allein unüberwindlich waren. Wie lange hatte er sie schon vergebens gesucht! Wie oft hatte er vor dunklen Klostermauern ihr Lied gesungen und gehofft, ihr Gesicht in einem der winzigen Fenster zu sehen? Er hatte schon aufgegeben, als Anno zu ihm gekommen war. Auch wenn er noch nicht genau wusste, was sie für den Fürsterzbischof tun sollten, stand für ihn unverrückbar fest, dass er sich mit all seiner Kraft für Rainalds Ziele einsetzen würde. Selbst wenn er dafür morden müsste.
Ludwig hob den Kopf. Endlich gab es wieder Hoffnung. Sein Glück war zum Greifen nahe. Nicht das verbrannte Land war der Spiegel seiner Seele. Er sollte sich von den
düsteren Gedanken der letzten Monate trennen. Der Sonnenaufgang! Das war sein Spiegel! Was für ein poetischer Unsinn! Er war ja schlimmer als dieser dichtende Pfaffe, den sich der Erzbischof hielt!
Mit einem Lächeln auf den Lippen lenkte Ludwig sein Pferd den Hügel hinab auf Mailand zu. Im Morgenrot sah die Stadt prächtig aus. Auch wenn das Land ringsherum verwüstet war, so zeigte Mailand selbst nicht die geringsten Anzeichen von Zerstörung. Nicht einen Angriff hatte der Kaiser gegen die Stadt geführt, aus Angst, sein kleines Heer vor den mächtigen
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