Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Gräber gestürzt? Rother richtete sich halb auf und sah sich benommen um. Zunächst schien ihm die Finsternis an diesem unheimlichen Ort vollkommen, doch nach einigen Atemzügen gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel. Er war in einer Kammer mit langen Nischen an den Wänden, in denen Dinge lagen, die wie dürres Geäst aussahen. Hastig schlug er ein Kreuz und vermied es, genauer
in die Nischen zu blicken. Ihm gegenüber lag eine große Türöffnung.
»Heilige Könige, steht mir bei«, flüsterte Rother und ging zögerlich auf den Eingang zu. Neben der dunklen Öffnung stand etwas auf dem Boden. Er bückte sich, und seine Finger ertasteten kleine, aus Ton gefertigte Öllampen. Wenigstens würde er sich nicht im Finstern auf die Suche nach dem Weg in die Stadt machen müssen. Entschlossen zog er den kleinen Beutel mit Feuerstein, Stahl und Zunder unter seinem zerrissenen Hemd hervor. Jetzt war es unmöglich, noch umzukehren! Das Schicksal hatte entschieden, dass er ein Held sein würde!
Angewidert betrachtete Heinrich die Festgesellschaft. Betrunkene Ritter und liederliche Weiber. Sogar der Archipoeta war hier und sang, eine halbnackte Hure im Arm, unsittliche Lieder. Der Anblick bestätigte Heinrich in seinem Entschluss, zu den Templern zu gehen. Wenn dies hier die Blüte der christlichen Ritterschaft war, dann würden die Heiden bald wieder die Herren Jerusalems sein, und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tag des Jüngsten Gerichts anbrach.
Heinrich blickte zu Anno, der ihm stumm zunickte. Offenbar empfand auch der Sennberger keine Freude an diesem Treiben. Vielleicht hatte er sich ja in ihm getäuscht, und sein raubeiniger Gefährte war ein besserer Christenmensch, als er angenommen hatte.
Gemeinsam gingen sie zu Ludwig und packten ihren Kameraden bei beiden Armen. Eine dunkelhaarige Schönheit sprang erschrocken vom Schoß des Ritters, während die übrigen Zechkumpanen lachten und ihren
Kameraden verspotteten, der so unsanft aus dem Zelt gezerrt wurde.
»Was tut ihr da?«, rief Ludwig mit lallender Stimme. »Ihr könnt mich doch nicht einfach …«
»Hast du Rother gesehen?«, fragte Heinrich scharf.
»Den Jungen?« Der Firneburger schüttelte benommen den Kopf. »Seit gestern nicht mehr.«
Anno fluchte und ließ Ludwig los, der daraufhin beinahe das Gleichgewicht verlor. »Was … was soll das?«
»Rother ist nicht mehr im Lager, und sein Pferd ist auch fort. Anno hat herausbekommen, dass sich der Kleine in einem der Küchenzelte gestern früh ein Dutzend Brote geholt hat. Es sieht ganz so aus, als hätte unser junger Freund beschlossen, sich aus dem Staub zu machen«, erklärte Heinrich.
Ludwig wiegte benommen den Kopf. »Du meinst, er will nach Hause zurück?«
»Weiß der Teufel, wohin er will«, fluchte Anno. »Aber wir können ihn nicht einfach ziehen lassen. Der Fürsterzbischof hat Pläne mit dem Kleinen.«
»Und was werden wir jetzt tun?« Ludwig klang plötzlich viel nüchterner.
»Wir werden den Jungen suchen«, brummte Anno wütend. »Und gnade ihm Gott, wenn er mir in die Finger gerät. Ich werde ihn so versohlen, dass er für mindestens eine Woche nicht mehr auf die Idee kommt, seinen Arsch in einen Sattel zu heben. Unsere Pferde sind schon bereit. Rother hat höchstens anderthalb Tage Vorsprung. Wir müssen ihn kriegen, bevor er die Alpenpässe erreicht!«
Ein enger, gemauerter Gang führte Rother zu einem unterirdischen Kanal. Die grob behauenen Felsblöcke waren
dick mit Schlamm und Algen besetzt. Neben dem Kanal, der zu einem träge fließenden Rinnsal geschrumpft war, lief ein schmaler Fußweg. Es stank bestialisch nach verrottendem Unrat.
Der Knappe beschleunigte seine Schritte, um der Kloake zu entkommen. Auf dem Pfad vor ihm malten sich deutlich die nackten Fußabdrücke von Kindern im eingetrockneten Schlamm ab. Wenigstens war er auf dem richtigen Weg!
Nach etwa dreihundert Schritten versperrten herabgestürzte Felsblöcke den Kanal. Rother vermutete, dass er schon unter der Stadtmauer hindurch sein musste. Mit jedem Schritt wurde der Gestank unerträglicher. Er zog einen Zipfel seines Hemds vors Gesicht, um noch atmen zu können. Unruhig sah sich Rother nach einem Ausweg um. Lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Etwas streifte seine Füße. Als er das Lämpchen hob, sah er zwei fette Ratten zwischen den herabgestürzten Felsblöcken verschwinden.
Vorsichtig stieg er über die zerbrochenen Steine hinweg. Einige knirschten bedenklich unter seinen
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