Königin der Engel
ergossen sich in Teiche voller schöner Fische aus den Gärten des Karibischen Meeres – die meisten davon echt, manche jedoch auch Produkte der Kunst der Rekombinierer. Wogende Vorhänge von Proschinen-Skulpturen hingen im Mittelpunkt des Zentrums von der Kuppel des Atriums herab und ließen Licht und Parfüm auf Hispaniolas neue Gäste herabströmen. Auf Hispaniola gab es nur wenig Nano-Industrie – es handelte sich um frühe, aus den USA importierte Kunstwerke, die nur zu dem zu gebrauchen waren, wofür sie gedacht waren.
Reiseführerprojektionen in prächtigen Uniformen sprachen neugierige Reisende in einem Dutzend offener Vorführräume um das Peristyl herum an. Schallisolation steuerte den Strom der Geräusche präzise und hinterließ nur ein angenehmes leises Summen, das dezent von einheimischer Musik überlagert wurde.
Mary wurde von einer grünweiß livrierten, kaffeebraunen Frau mit Adleraugen aus der Schar der ankommenden Passagiere herausgepickt und zu einem Empfangssalon für VIPs geführt. Der Salon war durch Glaswände vom übrigen Atrium abgetrennt. Er war leer, bis auf einen hochgewachsenen Mann in einem uralten Diplomatenfrack und zwei Bronzestein-Arbeiter von unbestimmtem Zweck.
Der hochgewachsene Mann verneigte sich leicht und streckte ihr die Hand hin, und Mary schüttelte sie. »Darf ich Sie in der Republik Hispaniola willkommen heißen, Inspector Mary Choy?« Sein strahlendes Lächeln gab den Blick auf zwei Schneidezähne von der Farbe roter Korallen frei. »Man hat mich zu Ihrem Avocat und Führer bestellt. Mein Name ist Henri Soulavier.«
Mary verbeugte sich und lächelte freundlich. »Merci.«
»Sprechen Sie Französisch, Spanisch oder vielleicht Kreolisch, Mademoiselle Choy?«
»Leider nur kalifornisches Spanisch.«
Soulavier breitete die Hände aus. »Das ist kein Problem. Auf Hispaniola spricht jeder Englisch. Es ist die Muttersprache von unserem Colonel Sir. Und es ist die Zweitsprache der ganzen Welt, wenn nicht gar ihre Hauptsprache, nicht? Aber ich werde auch als Dolmetscher fungieren. Man hat mir gesagt, daß Ihre Zeit beschränkt ist und daß Sie sich sofort mit unserer Polizei besprechen möchten.«
»Ich könnte zuerst mal etwas zu essen vertragen.« Sie lächelte erneut. Mit Soulavier hatten sie eine gute Wahl getroffen; er war direkt und charmant. Das hatte sie schon oft über Hispaniola gelesen: Wenn man die traurige Geschichte und die fragwürdigen wirtschaftlichen Arrangements der Gegenwart vergaß, konnte man hier die freundlichsten Menschen der Welt finden.
»Selbstverständlich. Man wird Ihnen in Ihrer Unterkunft ein Abendessen servieren. Wir sind in spätestens einer Stunde dort. Diejenigen, mit denen Sie sprechen wollen, machen jetzt ohnehin Feierabend, und die Büros schließen. Am besten, Sie treffen sich morgen mit ihnen. Außerdem hat man uns gesagt, daß Ihre Kollegen in…« – er warf einen Blick auf seine Uhr – »… zwei Stunden ankommen. Ich werde sie hier empfangen; es ist nicht nötig, daß Sie sich persönlich bemühen. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich Sie zu Ihren Räumen in den Quartiers Diplomatiques in Port-au-Prince begleiten. Dann haben Sie den Abend für sich. Sie können arbeiten oder sich entspannen, ganz wie Sie wünschen.«
»Abendessen in meiner Unterkunft wäre prima«, sagte sie.
»Wie Sie bestimmt wissen, sind alle offiziellen Reisenden in Hispaniola isoles, um jede Ablenkung durch unsere Touristenindustrie zu vermeiden, die nicht ihren Bedürfnissen entsprechen könnte, nicht wahr?«
Der linke Arbeiter rollte auf drei Rädern vor und streckte einen Arm aus, um ihre persönlichen Sachen zu nehmen. Sie lehnte mit einem Lächeln ab, weil sie es für das Beste hielt, ihre Tafel vor einer möglichen Untersuchung zu bewahren.
Ihre Vorsicht schien Soulavier zu amüsieren. »Hier entlang, bitte. Wir werden Gänge hinter den Vorführräumen benutzen. Ist viel einfacher.«
Der Zug nach Port-au-Prince war völlig leer. Sie waren die einzigen Fahrgäste. Sitzkissen aus schwarzem Samt trugen das Wappen von Colonel Sir: Rhinozeros und Eiche unter einem gestirnten Himmel.
Sie fuhren aus dem Verkehrszentrum von Santo Domingo ab und kamen kurz darauf ins Freie hinaus. Die Schwebebahn durchquerte weite, offene Ebenen und Hügel, die von den letzten Regenfällen begrünt waren. Der Abend hatte sich rasch auf die Insel herabgesenkt und alles in ein magisches, saphirblaues Zwielicht getaucht. Der riesige Grat der Cordillera Central beherrschte
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