Königin der Engel
kann.«
Mary nickte; das zentrale Rätsel der hispaniolanischen Geschichte.
»Ich habe mich mit unseren Führern beschäftigt. Anfangs sind es gute Männer, aber innerhalb von ein paar Jahren oder manchmal auch nur ein paar Wochen verändert sich etwas in ihnen. Sie fangen an, zornig zu werden. Sie fürchten sich vor fremden Kräften. Wie eifersüchtige alte Götter quälen und ermorden sie uns. Am Ende – bevor sie sterben oder ins Exil getrieben werden – sind sie wie kleine Kinder… Sie sind zerknirscht und wissen nicht recht, was mit ihnen geschehen ist. Sie lächeln in die Augen der Kameras: >Wie hätte ich das tun können? Ich bin ein guter Mensch. Das war ich nicht. Es war jemand anders.<«
Mary war erstaunt, solche Offenheit anzutreffen, aber Soulavier fuhr fort: »Das war alles vor Colonel Sir. Er ist seit dreißig Jahren hier, so lange wie Papa Doc im letzten Jahrhundert, aber ohne Papa Docs unvergeßliche Grausamkeit. Wir haben Colonel Sir viel zu verdanken.«
Es klang ehrlich und aufrichtig; Soulavier schien unfähig zu sein, seine wahren Gefühle zu verbergen. Aber sie wurden mit Gewißheit verborgen. Er mußte es ebenso kennen wie sie: das Geheimnis von Colonel Sirs Stabilität. Hispaniola hatte zwanzig Jahre lang die Gnade außerordentlicher Prosperität und einer vergleichsweise milden eigenen Regierung genossen. Wenn es einen besitzergreifenden Dämon des Schmerzes und des Todes auf der Insel gab, dann hatte Colonel Sir seine Wirkung auf deren Bewohner gedämpft, indem er seinen Einfluß in alle Welt exportiert hatte.
»Aber ich bin nicht hier, um Ihnen unsere Insel schmackhaft zu machen, nicht wahr?« sagte Soulavier mit einem leisen Lachen. »Sie sind mit einem offiziellen Auftrag hier, der nur wenig mit uns zu tun hat. Sie sind hier, um einen Mörder zu finden. Eine klare Aufgabe. Vielleicht können Sie später einmal nach Hispaniola zurückkommen, um uns so zu sehen, wie wir wirklich sind, um sich zu entspannen und Spaß zu haben.«
Jenseits des Tunnels schimmerten die Lichter von Port-au-Prince, gefangen zwischen dem dunklen Karibischen Meer und den Bergen.
»Ah«, sagte Soulavier und drehte sich zur Seite, um aus dem Fenster auf der anderen Seite des Gangs zu schauen. Diese Bewegung fiel Mary auf. Sie hatte nicht die eingeübte Anmut eines Diplomaten; sie paßte eher zu einem flinken, unbefangenen Sportler oder Straßenräuber. »Wir sind da.«
Als der Zug langsamer wurde und die letzten paar Kilometer zum Bahnhof rollte, zeigte ihr Soulavier die großen Touristenhotels Regierungsgebäude Museen, alles solide Bauten aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, Glaswände Stein Stahl und Beton. Sauber und hell erleuchtet. Kurz vor dem Bahnhof rollten sie durch einen großen Stadtteil namens Vieux Carre, der seine Prä-Colonel-Sir-Architektur bewahrt hatte – erfinderisch, Holz und rissiger Beton, Dächer aus Ziegeln und rostigem Blech. Im Vieux Carre waren die Häuser bewußt schäbig und selten mehr als einstöckig.
Soulavier trat vor ihr auf den überdachten Bahnsteig hinaus, und zum erstenmal hatte sie direkten Kontakt mit der Luft von Hispaniola. Sie war warm und lind und wehte sanft durch den Bahnhof, wobei sie Blumendüfte und Küchengerüche mit sich trug. Mit den Arbeitern im Schlepptau gingen sie an Karren aus rostfreiem Stahl vorbei, an denen Händler frischen Fisch und gekochte Krabben, mit verschiedenen Pfeffersorten gewürzte Erdnußbutter und kaltes hispaniolanisches Bier verkauften. Im Bahnhof hielten sich nur ein paar Dutzend Touristen auf, und die Händler wetteiferten lebhaft um ihre Dollars. Soulaviers Anwesenheit bewirkte, daß sie Mary in Ruhe ließen. »Ach«, wiederholte Soulavier und zeigte mit weit ausgebreiteten Armen auf die spärlichen Touristen, »jetzt sagen sie häßliche Dinge über uns.«
Eine Regierungslimousine, die auf einem weißen Streifen parkte, wartete auf sie. Benzin- und Elektrotaxis sowie bunt dekorierte Taptaps waren verdrängt worden und standen in diskretem Abstand auf beiden Seiten. Die Fahrer saßen untätig herum, aßen oder lasen. Drei Männer und zwei Frauen in roten Hemden und Jeans tanzten um den Karren eines Getränkeverkäufers herum und ließen ihre Hände fröhlich auf Soulavier und Mary zuschnellen. Soulavier verbeugte sich vor den Tänzern und lächelte entschuldigend, als wollte er sagen: »Ich kann leider gerade nicht tanzen, ich bin mit ernsthafter Arbeit beschäftigt.«
Die Limousine – ein Automatikmodell – war
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