Königin der Engel
zu sagen. Soulavier warf ihr einen warmen, leicht verletzten Blick zu, als ob er es gehört hätte. Er lächelte unsicher und versteifte sich.
Eine spindeldürre schwarze Frau mit hohen Wangenknochen und klarem, starrem Blick, die mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner als Mary war, betrat die Rotunde. Sie trug ein langes grünes Empiregewand und ließ ihre behandschuhte Hand leicht und träge auf dem angewinkelten Arm eines grauhaarigen Mulatten in schwarzer Livree ruhen. Der Mulatte lächelte und nickte Soulavier, den weiblichen Wachen und Mary zu, ganz Freundlichkeit und Servilität. Madame Yardley schien kaum etwas wahrzunehmen, bis sie direkt vor ihnen stand.
»Bonsoir et bienvenus, Monsieur et Mademoiselle«, sagte der grauhaarige Diener. Seine Stimme war volltönend und hallend, als ob sie aus einer tiefen Höhle käme. »Madame Yardley ist da. Sie wird mit Ihnen sprechen.«
Die Frau schien mit einem Ruck zum Leben zu erwachen. Sie lächelte und richtete den Blick auf Mary. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie mit einem starken Akzent. »Verzeihen Sie mein Englisch. Hilaire spricht für mich.«
Der Diener nickte enthusiastisch. »Bitte begleiten Sie uns in den Salon. Dort werden wir etwas trinken und die Hors d’Oeuvres einnehmen. Madame ist höchst erfreut, Sie beide zu Gast zu haben. Folgen Sie uns, bitte.«
Hilaire schwenkte Madame Yardley mit einem Walzerschritt herum, und sie warf Mary über die Schulter hinweg einen Blick zu und nickte. Mary fragte sich, ob sich die Frau zu Tode hungerte oder ob Yardley auf ausgemergelte Frauen stand. Die hispaniolanischen Exilanten hatten ihr erzählt, daß Colonel Sir mehrere Geliebte hatte. Vielleicht war Madame Yardley nur zu Repräsentationszwecken da.
Der Salon war überwältigend elegant, eine erdrückende, Kopfschmerzen verursachende Mischung von Chinoiserien und afrikanischen Motiven. Ein weiterer, noch größerer Kronleuchter glitzerte über einem riesigen, handgewebten chinesischen Teppich, der so abgenutzt war, daß er durchaus mehrere hundert Jahre alt sein konnte. Eine mannsgroße Trommel – ein Assotor – stand in einer Ecke auf einem Sockel. Ebenholzschwarze Skulpturen bärtiger Männer säumten die Wände, große Figuren mit kurzen Beinen, schmalen Köpfen und krummen Rücken, Götter und Teufel. Eine riesige Bronzeschüssel voller Wasser und schwimmender Blumen stand schräg gegenüber von dem Assotor in der anderen Ecke.
Diese Eleganz stand in Widerspruch zu allem, was man ihr erzählt hatte: daß Yardley schlichte Unterkünfte bevorzugte und keinen Wert auf Pomp und Prunk legte. Die Samedi-Nadeln seiner Wachen: Trat er auch für Voodoo ein?
Madame Yardley ließ sich auf einem Ende eines mit chinesischer Seide bezogenen Sofas nieder. Hilaire ging flink hinter ihr herum und ließ ihre Hand los, mit der sie sodann leicht auf den Platz neben ihr klopfte, wobei sie Mary anlächelte.
»Donnez-vous la peine de vous asseoir. Bitte«, sagte sie mit einer kindlichen, ein wenig unheimlichen Stimme.
»Madame lädt Sie ein, sich zu ihr zu setzen«, sagte Hilaire. »Monsieur Soulavier, bitte nehmen Sie dort Platz.« Er zeigte mit einem mehrfach beringten Finger auf einen Sessel, der volle fünf Meter entfernt jenseits des pastellfarben-azurblauen Teppichmeeres stand. Soulavier gehorchte. Mary setzte sich an den für sie bestimmten Platz. »Madame Yardley wünscht, mit Ihnen beiden über die Lage auf unserer Insel zu sprechen.«
Was folgte, war ein Marionettentheatergeplauder in Französisch und gebrochenem Englisch von Madame Yardley, begleitet von flüssig extrapolierten, geradezu beseelten englischen Übersetzungen durch Hilaire. Madame Yardley drückte Besorgnis über die Schwierigkeiten auf der Insel aus; was hatte Monsieur Soulavier zu berichten?
Soulavier erzählte ihr wenig mehr als das, was er Mary erzählt hatte, nämlich daß Dominikaner und andere Gruppen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten, daß Truppen aus den Kasernen geholt worden waren und in den Straßen patrouillierten. Das schien zu genügen.
Madame Yardley wandte sich nun an Mary. Hilaire, der hinter ihr stand, die Hände auf der Sofalehne, tat es ihr sofort nach. Genoß sie ihren Aufenthalt? Wurde sie von allen Hispaniolanern gut behandelt?
Mary schüttelte den Kopf. »Nein, Madame«, antwortete sie. »Ich werde gegen meinen Willen hier festgehalten.«
Ein winziges Kerzenlicht der Besorgnis in Madames Augen, aber das Lächeln erlosch nicht, und die
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