Königin der Engel
Platz.«
Madame Yardley ließ sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen. Sie ist nie in Los Angeles gewesen, ebensowenig wie in Kalifornien; als junges Mädchen hat sie Miami besucht, aber es hat ihr nicht besonders gefallen. So verwirrend. Wenn sie aufs Festland kommen muß, dann zieht sie vielleicht Acapulco oder Mazatlán vor, wo sie drei Jahre zur Schule gegangen ist.
»Ich war nie in Miami, und in den anderen Städten auch nicht«, sagte Mary.
Das war schade; sie sollte öfters außer Landes gehen, um zu sehen, was die übrige Welt zu bieten hatte.
Mary pflichtete ihr bei, daß das klug wäre. Sie wünschte sich nichts mehr, als wieder in LA zu sein und die Stadt nie mehr verlassen zu müssen. Das blieb jedoch unausgesprochen.
»Ich war in Los Angeles«, sagte Soulavier. Davon hatte er Mary nichts erzählt; vielleicht wußte sie jetzt, warum er dazu ausersehen worden war, sich um sie zu kümmern. »Mein Vater hat im Jahr 2036 geholfen, die diplomatische Mission in Kalifornien aufzubauen.«
Madame fragte ihn in ihrem direkten Französisch, was er von der Stadt hielte.
»Sehr groß«, sagte er zuerst auf Französisch, dann auf Englisch. »Sehr viele Menschen. Damals nicht so stark in zwei verschiedene Klassen aufgeteilt wie heute, denke ich.«
Ist das wahr, zwei Klassen?
Mary neigte den Kopf.
»Diejenigen, die die mentale Therapie akzeptieren und jene, die es nicht tun«, sagte Soulavier. »Die letzteren werden im allgemeinen diskriminiert.«
Alle müssen sich therapieren lassen?
»Nein«, sagte Soulavier. »Aber um eine befriedigende Arbeit zu bekommen, muß man ein akzeptables mentales und körperliches Gesundheitsprofil haben. Die Weigerung, sich wegen mentaler oder körperlicher Funktionsstörungen behandeln zu lassen… macht es schwierig, von Arbeitsvermittlungsagenturen aufgenommen zu werden. Fast überall in den USA überprüfen solche Agenturen die Bewerber für die besser bezahlten Jobs.«
Madame Yardley ließ ein gläsernes, trillerndes, musikalischen Lachen hören, das nett und beunruhigend zugleich klang. Sie äußerte die Meinung, daß Hispaniola wie ein toter Baum in einem Hurrikan weggeblasen werden würde, wenn jeder auf der Insel seine geistige Gesundheit unter Beweis stellen müßte. Hispaniolas ganze Vitalität, behauptete sie, käme von der Weigerung, sich den praktischen Erfordernissen zu fügen, die Wirklichkeit zu tief in den Kopf eindringen zu lassen. Mit halb geschlossenen Augen, die Hände um die damastbedeckte Tischkante geklammert, musterte sie Mary, als ob diese das abstreiten und Madame Yardley dazu provozieren könnte, sie glattweg vom Stuhl zu hauen. Das eingefrorene Lächeln war verschwunden.
Mary neigte erneut den Kopf. Das Lächeln erschien wieder, wie eine flackernde Kerzenflamme, und Madame Yardley schaute verlangend zu Hilaire hinauf. Der Diener zog unverzüglich einen elektronischen Tongeber aus der Tasche und ließ drei scharfe Piepser erklingen. Keine zehn Sekunden später kamen weitere Diener – Mulatten und ein Orientale, alle von ziemlich kleiner Statur wie Kinder, aber voll ausgewachsen – mit Suppenschüsseln und einer großen Terrine herein.
Schweigend aßen sie die Suppe, eine mild gewürzte Hühnerbrühe. Mary fragte sich, ob sie alle Madame Yardleys Diät nach dem Fasten zu sich nehmen würden.
Sie erkundigte sich nicht, ob Colonel Sir später dazukommen würde, vielleicht wenn nahrhaftere Speisen aufgetischt wurden. Soulavier ignorierte ihren Blick und schlürfte friedlich Suppe von seinem Löffel, zufrieden damit, daß im Moment nicht so viel Gefahr bestand, in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten.
Als der Suppengang beendet war, ließ sich Madame Yardley von Hilaire zart den Mund abwischen. Es schmeckt wunderbar, sagte sie, wie ein Hauch des Lebens selbst. Ob Mary wissen möchte, warum sie gefastet hat?
»Ja«, sagte Mary.
Madame Yardley erklärte, daß ihrem armen Mann von allen Seiten Widerstand entgegenschlüge, selbst von seiner Frau. Sie fastet, um ihn davon zu überzeugen, daß er sich dem internationalen Recht beugen und nicht den bösen Buben spielen sollte; daß er ein für allemal die Entsendung hispaniolanischer Truppen in fremde Länder stoppen sollte, wo sie in fremden Kriegen kämpften. Er hat sich schließlich einverstanden erklärt, und deshalb bricht sie ihr Fasten ab. Es ist für Hispaniola wichtig, schloß sie, eine noch höhere moralische Stellung einzunehmen als die Länder drum herum. Die Insel hat das Potential,
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