Königin der Engel
Ich kann nicht glauben, daß er mich hergeschickt hat, damit ich für ihn leide.«
»Wer?« fragte Mary sanft.
»Mein Bruder. Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Mein Bruder.«
»Ja.«
»Er meinte, ich bräuchte mal Urlaub. Er sagte, er hätte ein Ticket übrig, das er nicht benutzen könnte. Ich sollte Yardley anrufen, wenn ich ankäme, und mich vorstellen. Ich bin noch nie weit aus Arizona rausgekommen – nicht mehr, seit ich klein war. Ich bin tro shink dämlich. Ich dachte, da stimmt was nicht, aber ich wollte weg… Probleme mit einer Frau. Raus aus Prescott, den Zug nach LA nehmen und dann mit dem Ticket meines Bruders nach Hispaniola fliegen. Klang genau wie das, was ich brauchte.«
Mary hörte schweigend zu. Sie spürte die Ausstrahlung der gewaltigen, fremdartigen Wesen über ihnen und stellte sich vor, daß sie lauschten und mit ihrem überlegenen, unmenschlichen Geist unparteiisch urteilten.
»Er hat sich immer um mich gekümmert. Von klein auf. Wir hatten verschiedene Mütter. Er ist sechs Jahre älter. Wir haben keine Angehörigen mehr. Sie sind alle tot.« Ybarras Augen weiteten sich, und er schien Mary um Verständnis anzuflehen. Sie nickte und berührte seine Hand. Er rückte langsam näher zu ihr, wie ein Trost suchendes Kind.
»Er hat unseren Vater getötet. Als wir klein waren. Er war zwölf oder dreizehn, und ich war fünf oder sechs. Unser Vater war ein schlechter Mensch, ein Ungeheuer… Er hatte hellere Haut als wir, auch als meine Mutter. Er behauptete, deshalb sei er was Besseres. Er hat meine Mutter beschimpft. Wir mußten ihn immer mit Sir anreden. Ich mußte Emanuel schwören, daß ich es keinem Menschen jemals erzählen würde. Aber jetzt pfeif ich auf alles, was ich ihm schwören mußte. Unser Vater hat meine Mutter umgebracht, nicht seine, nicht Emanuels Mutter; ich weiß nicht, was aus der geworden ist. Meine Mutter hieß Julie. Ich war damals vier, glaube ich.
Ich kann mich noch dran erinnern. Mein Bruder und ich sind ins Schlafzimmer gegangen. Ich weinte, weil ich gestillt werden wollte. Sie hat mich immer gestillt. So war sie nun mal.«
Mary schaltete den Tafelrecorder nicht ein. Das gehörte nicht zu den Dingen, die das Gericht wissen mußte.
»Sie lag im Bett. Sie war aufgeschlitzt worden. Sir war mit seinem großen Messer auf sie losgegangen. Er hatte dieses große Bowiemesser aus Stahl. Er hatte ihr die… Bluse aufgeschnitten. Ich weiß noch, wie ihre Brüste raushingen, große Brüste. Zerschnitten. Milch und Blut tropften runter. O mein Gott. Emanuel hat mich da rausgeschafft und die Tür zugemacht, und wir haben uns versteckt. Dann hat er geweint. Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht hab. Danach sind wir nach Arizona gezogen. Ich hab meine Mama nie wiedergesehen.
Sir hat nicht wieder geheiratet, aber es gab andere Frauen. Manche waren nett zu uns, andere nicht. Und wenn gerade keine anderen Frauen da waren…« Ephraim berührte ihren Arm. Sein Mund stand offen, als ob er keine Luft bekäme. Er atmete tief ein.
»Er hat mich benutzt. Emanuel hat er auch benutzt, glaube ich, aber meistens mich. Er hat mich seine Tochter genannt. Ich war fünf oder sechs. Ich kann mich nicht mehr an allzuviel erinnern. Macht ihn das zu einem Scheusal, was er mir angetan hat?«
Mary bejahte.
»Emanuel ist in der Nacht gekommen und hat mich geholt, und wir haben das Haus verlassen. Wir sind woandershin gegangen, in ein Heim. Sie haben uns verschiedene Namen gegeben und uns in verschiedene Familien gesteckt. Bevor wir getrennt wurden, sagte er zu mir: >Ich hab’s für dich getan. Ich hab Papas großes Messer genommen, als er geschlafen hat, und ihn aufschnitten, wie er’s mit Julie gemacht hat. Erzähl das keinem. Niemals. Ich werde dich auch immer beschützen.<«
Ephraim wischte sich wieder die Augen und schaute auf das verschmierte Naß an seinem Knöchel. »Er hat seinen Namen geändert. Er ist von einem anderen Paar namens Goldsmith adoptiert worden, und er hat Mama und Papa zu ihnen gesagt. Ich hab bei einer Familie in Arizona gelebt, aber er war in Brooklyn. Wir haben uns nicht sehr oft gesehen. Ich war stolz auf ihn. Ich hab heimlich seine Gedichte gelesen.« Ybarra schaute mit halb geschlossenen Augen zu den Engeln hinauf. »Wissen Sie, warum er mir das angetan hat?«
»Eigentlich nicht«, sagte Mary. »Kann sein, daß er das PD irreführen wollte. Vielleicht sind ihm auch die Konsequenzen nicht klar gewesen. Er war mit Yardley befreundet.«
»Ich kann mir nicht
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