Königin der Engel
Wachsamkeit. »Die Chefs haben mir erzählt, daß Sie ’ne Transformierte sind. Junge Junge, das kann man wohl sagen.«
Mary ignorierte die Bemerkung. »Wir sind zu zweit.«
»Wie vorgesehen. Ist er transportfähig?«
»Ich glaube schon.«
»Keiner von denen?« Sie zeigte auf Soulavier und Charles.
»Er ist in der Kirche.«
»Holen Sie ihn raus, dann laden wir ihn ein.«
Mary und der Copilot gingen in die Kirche und kamen mit Ephraim Ybarra wieder heraus. Soulavier stand schweigend am Rand des Weges zur Kirche. Seine Hände waren gut sichtbar, und er betrachtete die Pilotin aufmerksam.
»So, und Sie sind also bei den Onkels?« hörte Mary die Pilotin ihn fragen.
»Ja«, antwortete Soulavier.
»Harte Zeiten hier, was?«
Er sagte nichts. Als Ybarra an Bord der Dragonfly war, lief Mary zu Soulavier hinüber. »Wenn Sie nur die Wahl zwischen Exil und Bestrafung haben, sollten Sie vielleicht mit uns kommen«, sagte sie.
»Nein danke«, erwiderte er.
»Wir müssen los«, drängte die Pilotin und stieg durch die Seitenluke ins Flugzeug.
Charles stand hinter Soulavier, gebannt von dem Schauspiel.
»Natürlich«, sagte Mary. »Sie haben Familie hier.«
»Ja. Hier weiß ich, wer ich bin.«
Sie sah ihn von oben bis unten an und spürte einen scharfen Stachel der Sorge. »Danke.« Sie nahm seine ausgestreckte Hand, trat dann einen Schritt vor und umarmte ihn fest. »Dankbarkeit ist dafür nicht genug, Henri.«
Er lächelte knapp. »Königin der Engel«, sagte er. »Mein Gewissen.«
Sie ließ ihn los. »Sie sollten hier die Macht haben, nicht Yardley.«
»Oh Gott, nein«, protestierte Soulavier und wich wie von einer Biene gestochen zurück. »Ich würde so werden wie sie alle. Die Hispaniolaner sind nicht leicht zu regieren. Wir treiben unsere Führer zum Wahnsinn.«
»Ein-stei-gen«, rief die Pilotin aus der vorgewölbten Kanzel.
Mary lief zur Luke zurück, als sich die Propellerflügel herabsenkten und zu rotieren begannen. Die Dragonfly stieg rasch nach oben. Mary schaute durchs Fenster der Luke hinaus, während sich das Gurtzeug des Sitzes um ihre Taille legte. Soulavier und Charles standen auf dem weißen Kiesweg, der zur Kirche von John D’Arqueville führte, zwei Spielzeugfiguren neben einem stilvollen Arrangement riesiger Knochen. Sie sah Ephraim in seinem Gurtzeug an. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie das eines Kindes. Er schien wieder zu schlafen.
»Keine Spatzen«, sagte die Pilotin auf dem Sitz vorne links vergnügt. »Neunzig Minuten bis Miami.«
Das Tal und das Aquädukt von Terrier Noir, ausgedehnte grüne und braune Hügel und Berge, ein Stausee, die Nordküste und schließlich die Insel selbst fielen hinter ihnen zurück und waren nicht mehr zu sehen.
70
»Sieht wie ein Hotel aus«, bemerkte Carol, als die Limousine in die Auffahrt von Albigonis Villa einbog. Sie langte zu Martin hinüber und nahm seine Hand. »Haben wir unsere Fakten auf der Reihe?«
»Nein«, sagte Martin. »Albigoni kann überhaupt nichts erwarten, ehe wir nicht mehr über Goldsmith erfahren.«
»Unbewaffnet in die Höhle des Löwen«, sagte Carol.
Martin nickte grimmig und stieg durch die offene Tür des Wagens aus.
Erneut bedrückte ihn das Übergewicht von totem und konserviertem Holz. Er eilte mit Carol durch die geräumige Diele zu Albigonis Arbeitszimmer und Bibliothek. Ein großer, sonnengebräunter Transformierter, dem er bisher noch nicht begegnet war, ging voran, öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und trat beiseite.
Mrs. Albigoni – Ulrika, erinnerte sich Martin – stand am Fenster, in Schwarz gekleidet. Das rief ihm ins Gedächtnis, wie wenig Zeit seit den Morden vergangen war. Sie wandte Carol und Martin ihr gezeichnetes Gesicht zu, nickte ganz kurz, ohne jedoch irgend etwas zu sagen, und schaute wieder blicklos aus dem Fenster.
Thomas Albigoni stand an seinem Schreibtisch. »Ich glaube, Sie haben meine Frau noch nicht kennengelernt«, sagte er heiser. Die Farbe seiner Haut hatte sich nicht gebessert; Martin überlegte, ob er sich nicht in ärztliche Behandlung begeben sollte. Sein zerknitterter Langanzug sah aus, als ob er in der vergangenen Nacht darin geschlafen hätte.
Mrs. Albigoni reagierte nicht auf die Höflichkeitsfloskel. Mr. Albigoni nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Ich habe ein paar zusätzliche Fakten über Goldsmith aufgetrieben«, sagte er. »Aber vielleicht nichts, was wirklich hilfreich ist. Er wurde im Alter von vierzehn Jahren von einem schwarzen, jüdischen
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