Königin für neun Tage
offensichtlich, dass ihr Bruder das Ende seines Lebens bald erreichen würde. »Wir haben uns immer vertraut, nicht wahr?«
»Aber sicher, Edward«, bestätigte Elizabeth. »Möchtest du mir sagen, was dich bedrückt?«
»Mary war nie wie eine Schwester zu uns«, fuhr Edward fort. »Sie ist so viel älter. Nie hat sie mit uns gelacht und gescherzt.«
»Mary ist in ihrer Jugend sehr viel Leid widerfahren. Sie wird mir niemals verzeihen, dass meine Mutter der Grund dafür war, dass sich unser Vater von ihrer Mutter getrennt hat. Letztendlich ist Catherine von Aragon daran gestorben.«
»Dennoch ist unseres Vaters letzter Wille eindeutig – Mary wird bald Königin sein. Aber wird sie unser Land nicht zurück in die Papisterei führen und all das zerstören, wofür ich gekämpft habe?«
Elizabeth streichelte zärtlich seine Hand. Es schnitt ihr ins Herz zu sehen, wie viel Kraft ihn das Gespräch kostete.
»Du darfst dir darüber keine Gedanken machen.«
»Keine Gedanken machen! Elizabeth, was redest du da? Ich bin der König und dafür verantwortlich, dass mein Land nach meinem Tod einen gerechten und weisen Herrscher erhält.«
Elizabeth schwieg und dachte daran, dass nach Mary sie die nächste in der Thronfolge war. So hatte es ihr Vater in seinem Testament bestimmt. Hatte Edward sie deswegen gerufen, um ihr zu sagen, dass er Mary ausschließen und sie gleich zur Königin machen wollte? Alle, Edward eingeschlossen, glaubten, sie würde dem reformierten Glauben ebenso eifrig wie Edward anhängen. In Wahrheit war es ihr allerdings gleichgültig, ob sie ihre Gebete auf lateinisch oder auf englisch sprach, ob sie vor dem Altar vor der Hostie knien musste oder nicht. Für Elizabeth waren dies alles nur Äußerlichkeiten, ihr wahrer Glaube ruhte tief in ihrem Herzen.
»Du musst deine Pflicht tun. Mary ist deine Schwester«, murmelte sie, denn sie hatte ihren Vater geliebt und respektierte seinen letzten Willen.
»John Dudley sagt, es sei auch die Pflicht eines christlichen Königs, verwandtschaftliche Bande zum Wohle unseres allerhöchsten Gottes und unseres Vaterlandes beiseite zu schieben, denn unser Leben ist kurz, und wir werden uns vor dem Jüngsten Gericht dafür verantworten müssen.«
Unbehaglich wälzte sich Edward in den Laken. Seine Augenlider zuckten, und er begann, heftig zu husten. Schnell reichte ihm Elizabeth ein Taschentuch. Bestürzt erkannte sie die Blutflecken darin, als es Edward kraftlos sinken ließ.
»Ich werde jetzt wieder gehen, du brauchst Ruhe.«
Er tastete nach ihrer Hand. »Bleibst du in meiner Nähe? Ich möchte, dass du da bist, wenn … wenn es so weit ist.«
Elizabeth nickte, dann verließ sie traurig und bis ins Innerste aufgewühlt das Krankenzimmer.
Zur selben Zeit schritt John Dudley unruhig auf und ab, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
»Könnt Ihr mit dem Auf-und-ab-Gerenne nicht mal aufhören?«, fragte der Herzog von Pembroke. »Es macht mich nervös.«
»Dann soll Lord Thomas auch aufhören, mit den Fingern ständig auf die Tischplatte zu trommeln!«, wies ihn Henry Grey zurecht.
Dudley unterbrach seine Wanderung. Die Männer des Kronrates starrten sich an. Die Nerven aller lagen blank, und ein kleiner Funke hätte ein Explosion zur Folge gehabt.
Seit Tagen weilten die wichtigsten Männer von England im Palast, wohin sie von John Dudley einbestellt worden waren: er selbst, Janes Vater Henry Grey, die Herzöge von Pembroke und Shrewsbury, Lord Thomas Fenton und der königliche Großsiegelbewahrer John Russell. Sie alle waren Männer der Tat und hassten diese zähe Untätigkeit.
»Ist alles bereit, Lord John?«, fragte Thomas Fenton.
Dudley nickte. »Mein Sohn Robert steht mit drei Dutzend meiner besten Männer bereit, auf meinen Befehl hin sofort loszureiten, um Mary Tudor zu verhaften.«
»Was ist mit Lady Elizabeth?«
Eine Zornesader pochte an Dudleys Stirn. »Das ist ein Problem. Der König hat sie extra zu sich gerufen. Es ist aber von größter Wichtigkeit, dass sie nach Hatfield zurückkehrt, und zwar so schnell wie möglich! Wir müssen auch sie unter Arrest stellen.«
Pembroke griff nach dem Weinkrug und wollte sich einschenken. Er war jedoch leer, nur ein paar Tropfen rannen in seinen Becher. »Verdammt! Warum wird kein neuer Wein gebracht?«, fluchte er und schleuderte den Krug an die Wand, wo er in hundert Scherben zerbrach und klirrend auf den Boden fiel.
»Dudley, warum macht Ihr Euren Einfluss auf den König nicht geltend und sorgt dafür, dass Elizabeth
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