Königin für neun Tage
England und damit für Norman für immer und ewig unerreichbar war, wenn ihr Herz in einer anderen Sprache klopfte. Langsam löste sie sich von Norman und trat einen Schritt zurück. Heute war er nicht betrunken, trotzdem klangen seine Worte
unser kleines Intermezzo
nicht überbewerten … in ihren Ohren. Sie durfte keine körperliche Nähe zwischen ihnen mehr zulassen. Es schmerzte so sehr, Norman so nahe und gleichzeitig so weit von ihm fort zu sein.
»Ich sehe wieder nach Jane. Ich meine, nach der Königin. Vielleicht lässt ihr Ehemann mich zu ihr«, sagte Antonia betont locker und versuchte ein ungezwungenes Lächeln.
Norman nickte und ging auf die Tür zu. »Gott behüte England, wenn Guildford Dudley König werden sollte.«
Janes Einzug in die Hauptstadt glich mehr einem Trauerzug denn einem Freudenfest. Zwar trauerten die Menschen immer tagelang um den verstorbenen Souverän, begrüßten aber dennoch den neuen Herrscher – oder, wie in diesem Fall, die Herrscherin – mit lauten Jubelrufen. Doch dieses Mal blieb alles verdächtig still. Zwar säumten Tausende von Londoner Bürgern, Handwerker, Kaufleute und einfache Arbeiter, die Straßen, aber keiner hob seine Hand, um Jane zuzuwinken. Keine Kappe wurde in die Luft geworfen und kein »Lang lebe die Königin!« erklang. Die Wachen, allen voran John Gates, der bereits unter Edward der Kapitän der Wache gewesen war, beobachteten die Menschen kritisch und aufmerksam. John Dudley hatte ihm gesagt, möglicherweise könne es zu Aufständen kommen. Bisher verhielt sich das Volk ruhig. Doch dann sah Gates, wie ein Mann auf den Boden spuckte, just in dem Moment, als Jane an ihm vorbeiritt. Er zügelte sein Pferd und gab zweien seiner Männer ein Zeichen. Der Mann wurde links und rechts an den Armen gepackt und festgehalten. Seine Kleidung wies ihn als Tuchhändler der unteren Klasse aus.
»Willst du deiner neuen Königin nicht die gebührende Ehre erweisen?«, brüllte Gates ihn an.
Der Mann erwiderte ruhig seinen Blick. »Ich habe extra meinen Laden geschlossen, um hierher zu kommen. Was verlangt Ihr mehr?«
»Dass du deine Kappe abnimmst, wenn die Königin an dir vorbeireitet!« Mit einem Ruck riss Gates dem Mann die Mütze vom Kopf und warf sie in den Dreck.
»Bisher habe ich meine Königin, der ich Treue und Gehorsam schwören werde, nicht gesehen. Oder sieht jemand von euch hier irgendwo Lady Mary?« Er wandte sich in die Runde, einige Männer grinsten zustimmend, andere wurden ob dieser vorwitzigen Worte ganz bleich.
John Gates verpasste dem Mann einen Schlag ins Gesicht und herrschte seine Männer an: »Führt ihn ab! Er wird für seine vorlauten Worte büßen und sie bereuen, wenn ihm erst seine lästerliche Zunge herausgeschnitten wurde!«
Erschrocken hatte Jane die Szene beobachtet. Jetzt lenkte sie ihr Pferd neben das des Kapitäns, als dieser wieder aufgesessen war. »Master Gates, ich möchte, dass dem Mann kein Leid geschieht«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen befehlsartigen Ton zu geben.
»Aber Euer Gnaden, er hat Euch beleidigt!«
»Er ist ein freier Mann, der frei seine Meinung äußern kann. Ich möchte nicht, dass Blut fließt. Lasst ihn los!«
Sofort war Guildford an ihrer anderen Seite. »Jane, sei nicht töricht! Man muss eine Rebellion sofort im Keim ersticken, sonst weitet sie sich aus und wird zu einer unübersehbaren Gefahr.«
Zornig funkelte Jane ihren Mann an. »Noch bist du nicht der König, Guildford Dudley!«
Sie wendete ihr Pferd und setzte ihren Ritt in Richtung des Palastes von Westminster fort.
In dem hohen, einer Kathedrale ähnlichen Thronsaal mit dem Tonnengewölbe, in dem bereits seit Jahrhunderten Könige regiert und geherrscht hatten, war es ungewöhnlich kühl. Keine Wärme drang durch die meterdicken Steinmauern. Der Saal war voller Menschen, die schlagartig verstummten, als Jane eintrat. An den Wänden stand ein Ring von Wachen, die mit unbeweglichen Gesichtern ihre Hellebarden präsentierten. Dicht hinter Jane ging der Herzog von Pembroke, gefolgt von Lord Fenton und Guildford Dudley, den es ärgerte, nicht an der Seite seiner Frau den Thronsaal betreten zu dürfen. Fragende, aber auch erwartungsvolle Gesichter sahen Jane entgegen. Sie zögerte, plötzlich fühlte sie sich von den vielen Menschen eingeschüchtert und wäre am liebsten davongelaufen. Irgendwohin, wo es keinen Kronrat und keine hohen Herren gab, die sie zur Königin machen wollten. Jane erkannte ihre Eltern, die sich, ebenso wie alle anderen,
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