Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Michéle
Vom Netzwerk:
waren. Trotzdem wünschte sich Antonia, er würde sie bei ihrem richtigen Namen nennen und sie überhaupt anders behandeln. Nicht wie einen kleinen Bruder, sondern vielmehr wie … Ach verflixt, es war Zeitverschwendung, über etwas nachzudenken, was ohnehin nie eintreten würde. Auf dieser Reise musste Antonia nicht nur Normans Bruder spielen, sondern, als reichte dies alles nicht, auch noch stumm den Schwachsinnigen abgeben. Norman hatte richtig erkannt, dass Antonia für einen zwölfjährigen Jungen, der noch nicht im Stimmbruch war, inzwischen zu groß war. Also musste sie schweigen, denn ihre hohe Stimme hätte sie unweigerlich verraten. Außerdem schlug sie den Kragen ins Gesicht und zog sich die Mütze bis über beide Ohren, denn auch das völlige Fehlen von Bartwuchs könnte Verdacht erregen. Dass sie deshalb etwas sonderbar aussah, erklärte Norman damit, dass sein kleiner Bruder von Geburt an
etwas seltsam
sei und sich fürchte, anderen Menschen ins Gesicht zu sehen.
Bisher hatten die Leute Antonia nur angestarrt, manche mitleidig, manche voller Verachtung. Nicht wenige hatten sich hastig bekreuzigt und sich abgewandt.
»Ich finde, du spielst deine Rolle sehr gut«, sagte Norman genau in dem Moment, als Antonia darüber nachdachte, ob sie sich wohl jemals wieder in Antonia verwandeln würde. »Kein Mensch kommt auf die Idee, dass du eine Frau bist. Aber dieses Verhalten ist dir ja nicht unbekannt.«
Da Norman nicht erkennen sollte, wie verletzt sie war, weil er offenbar die Frau in ihr nicht bemerken wollte, sagte Antonia betont forsch: »Du hast mir nicht gesagt, warum wir überhaupt nach Schottland reiten. Was sollen wir in dem Land?«
»Ich habe Verwandte.«
»Verwandte?« Antonia riss die Augen auf. »Dann bist du schottischer Abstammung?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, die Verwandtschaft ist weitläufig. Eine Tante einer Cousine zweiten Grades meiner Mutter hat in diese schottische Familie eingeheiratet.«
»Das ist wirklich sehr weitläufig! Wissen diese
Verwandten
überhaupt von deiner Existenz? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie uns mit offenen Armen willkommen heißen werden.«
Norman begann die Schnürung seiner Hose zu lösen, was Antonia mit Unbehagen beobachtete, und sagte: »Uns bleibt keine andere Wahl, wollen wir nicht das Risiko eingehen, eines Tages doch noch von den Häschern der Königin gefasst zu werden.« Er streifte sich die Hose über die schmalen Hüften und Antonia drehte sich rasch um. Scheinbar interessiert starrte sie durch die bleiverglaste Scheibe auf die menschenleere Dorfstraße. Sie hörte, wie die Matratze knarrte, als Norman ins Bett schlüpfte. »Willst du dich nicht auch hinlegen? Also, ich bin todmüde.«
»Es ist noch nicht einmal dunkel«, murmelte Antonia ausweichend. In diesem Zimmer stand nur ein Bett, das zwar breit genug war, um zwei Personen Platz zu bieten, aber es war eben nur
ein
Bett.
»Wo steht geschrieben, dass man nur bei Mondschein schlafen darf?« Norman reckte sich und gähnte ausgiebig. »Also, ich werde jetzt schlafen, du kannst machen, was du willst, Anthony.«
Antonia blieb am Fenster stehen, bis regelmäßige Atemzüge ihr verrieten, dass Norman fest eingeschlafen war. Da sie im Dämmerlicht nur Umrisse erkennen konnte, entzündete sie eine Kerze und trat leise ans Bett. Es war das erste Mal, dass sie Gelegenheit hatte, Norman im Schlaf zu beobachten. Das lange Haar lag ausgebreitet um seinen Kopf, sein Mund war entspannt. Helle Bartstoppeln ließen sein Kinn dunkler erscheinen. Obwohl sie auf der Flucht waren, bestand Norman darauf, sich regelmäßig zu rasieren. Im Gegensatz zu diesem sehr männlichen Attribut wirkten seine langen und dichten Wimpern eher wie die eines kleines Jungen. Seine große, leicht gebogene Nase störte das harmonische Gesamtbild keineswegs. Norman Powderham war ein schöner Mann. In Antonias Kehle wurde es trocken, sie schluckte mehrmals hintereinander. Dann löschte sie die Kerze, nahm sich die zweite Decke und legte sich auf die äußerste Kante des Bettes, wo sie auf keinen Fall in Berührung mit Normans Körper kommen konnte. Sie hatte ihre Kleidung anbehalten, trotzdem spürte sie Normans Wärme, die sich wohltuend im Bett ausbreitete. Wohin sollte sie diese Reise noch führen, überlegte Antonia und meinte damit nicht nur ihr geografisches Ziel.
    Den nächsten Tag verbrachten sie in abwartender Spannung im Zimmer. Einmal verschwand Norman für ein paar Stunden, um sich die Füße zu vertreten. Antonia

Weitere Kostenlose Bücher