Königin für neun Tage
persönlich die Fesseln der Räuber überprüft hatte, gebot er Antonia, wieder auf ihr Pferd zu steigen. »Wir reiten ebenfalls nach Hampton Court. Ich denke nicht, dass uns heute noch einmal eine Gefahr droht.«
Während Antonia ihre Stute neben ihn lenkte, fragte sie: »Ich verstehe nicht, wie es die Räuber wagen konnten, uns in der Nähe des Palastes zu überfallen. Hatten sie denn keine Furcht, von den Männern des Königs gefasst zu werden?«
»Gerade weil der König mit seinem Gefolge in Hampton weilt, ist der Anreiz für Überfälle besonders groß«, knurrte Sir Norman. »In Hampton Court geht es zu wie in einem Bienenstock – täglich kommen Reisende in den Palast, und andere verlassen ihn wieder. Darunter sind viele reiche Kaufleute und Adlige, die auszurauben sich lohnt. Diese Gesetzlosen gehen jedes Risiko ein, um gute Beute zu machen.«
Antonia dachte, wie verzweifelt die Menschen sein mussten, wenn sie mit minderwertigen Waffen und Holzstöcken eine Gruppe von Rittern angriffen. Dann versagte sie sich sofort jegliches Mitleid mit den Männern. Auch wenn sie Not und Hunger litten, war das kein Grund, andere auszurauben und ihnen sogar das Leben zu nehmen. In den Augen des Anführers, der jetzt tot am Boden lag, hatte sie deutlich Hass und Mordlust gelesen. Nein, dieser Kerl hätte keinen Moment lang gezögert, sie zu töten. Unwillkürlich zog Antonia schaudernd die Schultern zusammen. Ihr wurde bewusst, wie klein und eingeschränkt ihre Welt in Fenton Castle gewesen war und wie Ellen sie behütet und vor aller Unbill beschützt hatte. Doch jetzt hatte sie eine Tür in ein anderes, aufregenderes Leben aufgestoßen. Unter gesenkten Lidern schielte sie zu Norman Powderham hinüber, der ungeachtet seiner Verletzung stolz und aufrecht im Sattel saß. Nun, solange er an ihrer Seite war, war sie mehr als bereit, sich der ihr unbekannten Zukunft zu stellen.
4. KAPITEL
Überwältigt vom Anblick, der sich ihr nun bot, zügelte Antonia ihr Pferd und richtete sich staunend im Sattel auf.
Sir Norman bemerkte, wie beeindruckt sie war, lenkte sein Ross an ihre Seite und sagte mit weit ausholender Geste: »Der Palast von Hampton Court.« Dabei war der Stolz in seiner Stimme unüberhörbar. »Anthony, siehst du die weißgrüne Standarte auf dem großen Torhaus?« Sie nickte, und ihr Blick schweifte über die riesige Anlage mit den unzähligen Türmchen, Kaminen und Fahnen. »Das ist das Zeichen, dass der König im Palast weilt. Seit er Hampton Court von Wolsey als Geschenk erhalten hat, ist es sein liebster Aufenthaltsort geworden.«
Das Wasser der breiten Themse glitzerte im Sonnenlicht, Dutzende von Schiffen – Fischerboote, Lastschiffe und auch elegante Barken der Adligen – kreuzten hin und her. Dahinter erhob sich der Palast. Mit seinen roten Ziegelmauern, den zahlreichen Innenhöfen und der imposanten Größe glich er einer kleinen Stadt. Die ganze Anlage war nur als Zierde von einem Wassergraben umgeben. Hampton Court würde keiner Belagerung standhalten. Es war ein Lustschloss, nach Kriterien der Schönheit und Behaglichkeit gebaut, und es entzückte jeden, der einen Blick darauf warf. Antonia hatte von ihrem Lehrer zwar schon viel über die königliche Residenz gehört, aber es war etwas völlig anderes, das größte und prächtigste Königsschloss mit eigenen Augen zu sehen.
Während sie langsam den Hügel hinab auf das westliche Tor zuritten, erinnerte sich Antonia an die Geschichte von Hampton Court: Der einst mächtige Kardinal und Lordkanzler Thomas Wolsey hatte das Gelände mit den Ruinen einer Abtei und eines Hospitals vom König geschenkt bekommen und begann, ein Schloss zu bauen, das in ganz England nicht seinesgleichen hatte. Bald stellte es an Pracht und Eleganz alles in den Schatten, was der König sein Eigen nannte. Das erregte natürlich Henrys Unwillen, zumal der Kardinal wegen seiner Arroganz und Selbstherrlichkeit beim Volk äußerst unbeliebt war. Bald kursierten Spottverse durch ganz England. So schrieb zum Beispiel der Dichter Skelton in sarkastischem Ton:
Warum kommst du nicht an den Hof?
An welchen Hof?
An den des Königs oder den Hof von Hampton?
Natürlich an den Hof des Königs:
Des Königs Hof sollte der erste sein,
Aber Hampton Hof sticht alle aus …
Das hörte der König nicht gern, zumal die Staatskassen durch zahlreiche Feldzüge so leer waren, dass er in seinen eigenen Gemächern mit weit weniger Komfort und Eleganz auskommen musste als sein Untergebener Wolsey, der nur
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