Königin für neun Tage
waren mit dickem rotem Samt bezogen, die Rückenlehnen mit Stickereien kunstvoll verziert. In der Halle wimmelte es von Menschen jeglichen Standes: Hochwohlgeborene in kostbaren, goldbestickten Gewändern, Bedienstete in schlichter, aber sauberer Kleidung und Geistliche in dunklen, einfachen Gewändern. Dazwischen wuselte die Dienerschaft in rotgoldenen Livreen geschäftig hin und her. Antonia wurde an die untere Schmalseite gedrängt, an der grobe Holztische und Bänke ohne Zierrat und Geschirr aus Zinn bereitstanden. Sie erkannte Master Rowse und den Jungen von vorhin und setzte sich neben sie auf die Bank. Einen Augenblick später erklangen Fanfaren, und der König betrat durch eine Tür neben dem Kamin die Halle. Sofort verstummten alle Gespräche, und die Leute verneigten sich in Richtung ihres Herrschers. Auch Antonia wurde durch einen Rippenstoß dazu aufgefordert. Sie hob den Blick und sah, dass König Henry links und rechts von zwei starken Männern gestützt wurde, sich aber trotzdem nur ganz langsam vorwärts bewegte. Sie erschrak über den Leibesumfang des Königs. Sicher hätte es drei Männer gebraucht, seinen Bauch zu umfassen. Sein Gesicht war so aufgedunsen, dass Antonia keine Augen erkennen konnte. Der König war prunkvoll in Weiß und Gold gekleidet, Farben, die seiner Korpulenz nicht schmeichelten. Ächzend nahm er auf seinem Stuhl Platz, die Königin setzte sich neben ihn. Sie war eine kleine, zierliche Frau, nicht mehr ganz jung, aber von angenehmem Äußeren. Gegen ihren Koloss von Gatten nahm sie sich wie ein Mäuschen aus, aber in ihrer Haltung und mit der juwelenbesetzten Haube wirkte sie auf Antonia durch und durch wie eine Königin. Ein Mundschenk kredenzte dem König Wein. Nachdem er gekostet hatte, hob er die Hand. Das war das Zeichen für die Diener, die Speisen aufzutragen.
Antonia konnte ihren Blick nicht von König Henry lösen. Dieser alte und unbeschreiblich fette Mann war also der grausame Herrscher, der ohne mit der Wimper zu zucken zwei seiner Ehefrauen hatte hinrichten lassen? Der mit dem Papst gebrochen und jeden, der die Suprematsakte nicht unterzeichnen wollte, ebenfalls aufs Schafott geschickt hatte?
Ein unsanfter Rippenstoß riss Antonia aus ihren Gedanken. John beugte sich zu ihr und flüsterte: »Starr den König nicht so unverschämt an! Das mag er gar nicht leiden.«
»Aber er sieht uns hier doch überhaupt nicht«, entgegnete Antonia.
»Er nicht, aber siehst du den dunkel gekleideten, streng aussehenden Mann rechts hinter ihm?«, mischte sich Master Rowse ins Gespräch. »Das ist Edward Seymour, Graf von Hertford und des Königs Schwager. Er ist nach dem König der mächtigste Mann in ganz England. Ihm entgeht nichts, was in diesem Reich geschieht.«
Antonia blickte interessiert auf den hageren Mann mit dem mächtigen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte.
»Man sagt, Lord Seymour wird Lordprotektor, wenn der König stirbt. Prinz Edward ist ja noch viel zu jung, um allein regieren zu können«, warf John ein.
Zu Antonias Verblüffung handelte er sich mit dieser Bemerkung eine Ohrfeige von Master Rowse ein.
»Halt deinen Mund! Es ist Hochverrat, auch nur mit einem Wort den eventuellen Tod des Königs zu erwähnen! Wenn dir dein Leben lieb ist, so hältst du dein loses Mundwerk künftig besser im Zaum.«
Antonia wollte eben entgegnen, dass schließlich jeder Mensch eines Tages würde sterben müssen, aber dann sah sie Sir Norman die Halle betreten. Sie sprang auf und eilte zu ihm. An seiner Seite ging eine junge Rothaarige, mit der Norman Powderham offenbar sehr vertraut zu sein schien, denn sie hatte sich bei ihm eingehakt und ließ keinen Blick von Sir Normans markantem Gesicht.
»Sir Norman!«, rief Antonia und zupfte ihn am Ärmel.
Er trug jetzt nicht mehr die Reisekleidung, sondern das elegante Wams eines Ritters und eng anliegende, braune Beinkleider, eine grüne Überhose und ein ebenfalls grünes, mit Silberfäden durchwirktes Oberteil. Bei Antonias Anblick rollte Sir Norman unwillig mit den Augen. »Was willst du, Junge?«
Antonia wich vor seinem abweisenden Ton zurück. »Ich wollte mich erkundigen, wie es Eurer Verwundung geht. Habt Ihr noch Schmerzen?«
Bevor Sir Norman antworten konnte, riss seine Begleitung die Augen auf und fragte entsetzt: »Ihr seid verletzt? Ach du meine Güte, wo denn und wie schlimm ist es?« Mit schmachtendem Blick sah sie Norman an, legte leicht, aber trotzdem intim ihre schmale, helle Hand auf die seine. »Vielleicht kann ich
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