Königin für neun Tage
gehalten.
»Bist du ein Stallbursche?« Ihre Stimme war klar und fein.
Antonia straffte die Schultern und blickte auf das zwei Köpfe kleinere Mädchen hinab. »Ich bin Knappe«, sagte sie, verzichtete aber darauf zu erwähnen, wem sie unterstellt war. Sie hatte nur den Wunsch, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, bevor das Kind die Wachen alarmieren konnte. Irgendetwas in der Haltung des Mädchens hinderte Antonia jedoch daran, sie einfach zur Seite zu stoßen und hinauszulaufen.
Die Kleine schloss die Tür hinter sich und ging zum Fenster, vor dem auf einem zierlichen Holztischchen ein Schachspiel aufgebaut war. »Hast du Zeit, eine Partie mit mir zu spielen?«, fragte sie.
Antonia riss verwundert die Augen auf. »Ich beherrsche das Spiel leider nicht …«
Das Mädchen seufzte und runzelte die Stirn. Dabei nahm ihr Gesicht einen so kindlichen Ausdruck an, dass Antonia erleichtert lächelte. Der ernste Blick und die erwachsenen Gebärden passten nämlich gar nicht zu dem Mädchen.
»Möchtest du mir vorlesen?«
Antonia sah das Flehen in den grauen Augen. Es war offensichtlich, dass das Mädchen sich langweilte. Nun, ein bisschen Zeit hatte sie tatsächlich, Master Rowse befand sich gerade beim Mittagessen. Darum antwortete Antonia: »Gerne, wenn Ihr mir ein Buch geben möchtet?« Sie ergriff den dünnen, in Leder gebundenen Band, den das Mädchen ihr reichte, schlug die erste Seite auf – und erschrak. »Das kann ich nicht lesen! Was für eine Sprache ist das?«
Die Augenbrauen des Kindes hoben sich und wirkten wie zwei wunderschön geschwungene Arkaden über den großen Augen.
»Du kannst kein Griechisch?« Sie überlegte kurz. »Nein, woher auch? Einem Knappen ist es verwehrt, die Sprache der großen Gelehrten wie Plato oder Aristoteles zu lernen. Schade.«
Antonia fing den Ball auf. »Und ein Knappe hat viele Verpflichtungen, Mylady.« Sie verbeugte sich. »Gestattet Ihr, dass ich mich entferne? Mein Master erwartet mich bereits.«
Das Kind nickte huldvoll, und Antonia erschien es beinahe lächerlich, das Mädchen wie eine Erwachsene zu behandeln, doch sie war es offensichtlich nicht anders gewohnt. Wer war sie wohl? Sicher das Kind eines Adligen, denn der Stoff ihres aufwändig gearbeiteten Kleides war von erlesener Qualität.
Es gelang Antonia, ungesehen den Palast zu verlassen und zum Übungsplatz zurückzukehren, wo Master Rowse sie grimmig zu sich heranwinkte.
»Wo hast du dich rumgetrieben? Sir Powderham hat nach dir gefragt.«
Antonias Herz tat einen Hüpfer. »Es tut mir Leid, ich wusste nicht, dass Ihr mich gesucht habt. Wo ist Sir Norman? Soll ich ihn aufsuchen?«
Master Rowse schüttelte den Kopf. »Ich soll dir ausrichten, dass man dich morgen Vormittag in der Turnierstätte erwartet. Der Prinz möchte sich im Kampf mit anderen üben, und Sir Powderham hat dich dazu ausgewählt.«
»Mich?« Antonia presste vor Überraschung beide Hände auf die Brust. »Aber ich habe doch noch gar keine Gelegenheit gehabt, mich vorzubereiten und zu üben!«
»Genau aus diesem Grund bist du der Richtige. Selbstverständlich darf der Prinz von Wales nicht verletzt werden, darum werden für ihn nur minderwertige Kämpfer ausgewählt.«
Antonia senkte den Kopf. Minderwertig! Sie hatte gedacht, bei dem Raubüberfall im Wald hätte Sir Norman erkannt, dass sie sich sehr wohl darauf verstand, mit dem Schwert umzugehen. Und jetzt sollte sie als Opfer für den jungen Prinzen herhalten. Sie musste sich jedoch fügen und dem Befehl gehorchen.
Der Turnierplatz wurde von vielen Menschen gesäumt. Auch der König war auf seinem Stuhl herangetragen und auf einer erhöhten Empore platziert worden. Erneut erschrak Antonia über seine fahle Gesichtsfarbe und darüber, wie sehr seine dicken Hände zitterten. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Prozession gelenkt, die Prinz Edward auf den Platz führte. Der Thronfolger, klein und schmächtig, wirkte jung und verletzlich. Antonia wusste, dass er in wenigen Wochen seinen neunten Geburtstag feiern würde. Edward Seymour schritt an seiner Seite, seinen dunklen, stechenden Augen entging keine Bewegung. Zwei Knappen halfen dem Prinzen, sich seines bestickten Umhangs zu entledigen, ein dritter reichte ihm ein Schwert mit einem juwelenbesetzten Griff. Der Prinz wiegte es abschätzend in den Händen und nickte wohlwollend.
»Man führe mir die Kämpfer zu«, rief er zu Antonias Überraschung mit lauter und klarer Stimme, die nicht zu der schmalen Gestalt passte.
Master Rowse
Weitere Kostenlose Bücher