Königin für neun Tage
Frage heraus, die ihr seit Wochen auf der Zunge brannte.
Jane lächelte nachsichtig. »Als ich dich in meinem Zimmer fand, habe ich gleich gewusst, dass du ein Mädchen bist. Ich wusste zwar nicht, warum du dich als Junge verkleidet hattest, doch ich war gespannt, wie es weitergehen würde.«
»Woran hast du das erkannt?«, fragte Antonia erstaunt. »Es ist mir doch gelungen, alle anderen Knappen und Master Rowse zu täuschen.«
Jane zuckte mit den Schultern. »Ich habe schon früh festgestellt, dass ich hinter die Fassaden blicken kann, die Menschen um sich herum aufbauen. Ich kann dir nicht sagen, was genau es war, aber ich habe einfach gespürt, dass du nicht in die Rolle passtest, die du gespielt hast.«
»Du bist ein seltsames Kind!« Antonia konnte sich nicht genug über Jane wundern. »Vermisst du nicht deine Eltern und Geschwister, wenn du so weit fort von ihnen bist?«
Sie war über das bittere Lachen Janes erstaunt.
»Meine Eltern? Lady Catherine ist die Einzige, die mir jemals das Gefühl gegeben hat, für jemanden wichtig zu sein. Als Mensch, meine ich. Für meine Eltern bin ich nur ein Spielball ihrer politischen Machenschaften, und ich bin zu jung, mich dagegen zu wehren.«
»In Hampton Court habe ich Gerüchte gehört, dass du … und Edward … ich meine, der König …«, begann Antonia zögernd. Sie war an dem Mädchen ernsthaft interessiert und hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Obwohl sie nur fünf Jahre älter als Jane war, hätte sie sie am liebsten in den Arm genommen und wie ein Baby an ihrer Brust gewiegt.
»Die Gerüchte verstummen also nicht«, antwortete Jane. »Ja, es gibt Bestrebungen, mich mit Edward zu verheiraten. Obwohl wir beide noch viel zu jung dafür sind. Weißt du, dass auch ich einen entfernten Anspruch auf die Krone Englands habe?«
»Auch davon habe ich gehört. Möchtest du es mir erzählen?«
»König Henry hatte zwei Schwestern: Die ältere, Margaret, war schon zu Lebzeiten Henrys VII. mit dem schottischen König verheiratet worden, und an der jungen, eigenwilligen Mary hing Henry mit zärtlicher Liebe. Allerdings vergaß er seine brüderliche Zuneigung, als es darum ging, seine Schwester zu politischen Zwecken mit dem alten König von Frankreich zu vermählen. Henry hoffte, so einen Krieg vermeiden zu können. Zuerst wehrte sich Mary dagegen, England zu verlassen und die Frau eines senilen Schwachkopfes zu werden, aber schließlich fügte sie sich dem Willen ihres Bruders. Sie war schließlich so erzogen worden, dass die Belange einer Prinzessin sich stets dem Wohl des Landes unterzuordnen haben. Bevor sie jedoch in Dover das Schiff, das sie nach Frankreich bringen sollte, bestieg, rang sie Henry das Versprechen ab, nach dem Tod des Königs einen Mann ehelichen zu dürfen, den sie sich frei wählen würde.«
»Der Wunsch ging bald in Erfüllung. Starb der französische König nicht bereits dreiundachtzig Tage nach der Hochzeit?«, erinnerte sich Antonia.
»Ja, am Neujahrstag 1515. Nach den Gesetzen des Landes musste sich Mary acht Wochen lang in völlige Abgeschiedenheit zurückziehen, denn es wäre ja möglich gewesen, dass sie einen Thronfolger unter dem Herzen trägt. An dieser Stelle kommt mein Großvater Charles Brandon ins Spiel. Brandon wuchs zusammen mit Henry auf und war einer seiner liebsten Freunde, und er empfand für Mary tiefe Zuneigung. Als Brandon vom Tod des französischen Königs hörte, brach er sofort nach Frankreich auf, ohne sich hierzu die Erlaubnis Henrys einzuholen. Währenddessen schrieb Mary an ihren Bruder und erinnerte ihn an sein Versprechen. Davon wollte Henry aber nichts mehr wissen, denn er verhandelte schon mit dem Herzog von Savoyen und einem flandrischen Adligen über eine neue Verheiratung seiner Schwester. Charles Brandon gelang es, Mary zu befreien, zumal sie vom neugekrönten König Franz unterstützt wurde. Franz war ein Romantiker, der die Liebe im Allgemeinen und die Frauen im Besonderen liebte. Brandon und Mary heirateten noch in Frankreich und kehrten zusammen nach England zurück.«
»Deine Großmutter war eine mutige Frau. König Henry hat sicher vor Wut getobt?«, fragte Antonia.
Jane kicherte. »Das hat er in der Tat! Er verbannte sie beide vom Hof, und sie zogen sich aufs Land zurück. Dann aber entsann sich Henry, dass Mary seine einzige Verwandte war, denn zu seiner Schwester Margaret hatte er schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Auch fehlte ihm sein Freund Brandon. So verzieh er den beiden und wurde sogar
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