Königreich der süßen Versuchung
herauszufinden, wem denn nun seine Gunst galt. Der Speisesaal kam ihm wie ein geheimes Schlachtfeld vor, auf dem jeder subtil seine Kämpfe austrug. Normalerweise hatte Andi durch eine geschickte Sitzordnung das Schlimmste vermeiden können. Aber an diesem Tag hatte sie ihn so richtig hängen lassen.
„Bitte entschuldigen Sie mich, meine Damen …“ Jake hielt es nicht länger aus, stand auf und ging zur Tür. Dass Andi nicht zu sehen war, beunruhigte ihn. Wenn sie nun einfach gegangen war? Unvorstellbar, denn sie war diejenige, die dafür sorgte, dass im Palast alles reibungslos lief. Was in diesen Jahren des Wandels besonders wichtig war, denn Jake hatte weder Zeit noch Energie, sich auch noch um die Belange des Palastes zu kümmern. Sie erledigte jede Aufgabe zuverlässig, kaum dass er sie gestellt hatte. Außerdem war sie ein Organisationstalent, handelte überlegt und taktvoll. Und nun sollte er ohne sie zurechtkommen? Das war unmöglich!
Schnellen Schrittes ging er in den Westflügel und blickte in Andis Büro. Es war dunkel. Wo war sie nur? Oft hatte sie auch noch abends hier gesessen, da das die beste Zeit war, mit Geschäftspartnern in den USA Kontakt aufzunehmen. Immerhin stand ihr Laptop noch auf dem Schreibtisch, das war ein gutes Zeichen.
Jetzt stieg Jake die breite Treppe hoch, die in den ersten Stock führte, wo sich die Schlafräume befanden. Wie die Mitglieder der königlichen Familie bewohnte Andi eine Suite, kein kleines Zimmer wie die übrigen Palastangestellten. Aber sie gehörte ja auch quasi zur Familie, verdammt noch mal! Und das bedeutete, dass sie nicht einfach ihre Sachen packen und gehen konnte!
Zögernd näherte er sich der geschlossenen Tür und klopfte. Keine Antwort. Vorsichtig drückte er die Türklinke hinunter. Zu seiner Überraschung ging die Tür auf, und er trat ein. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, sah er sich in dem Raum um. Wie auch ihr Büro war alles klar und aufgeräumt und wirkte eigentlich eher wie ein Hotelzimmer, unpersönlich und kalt. Als er die beiden Koffer bemerkte, die gepackt waren, aber noch geöffnet auf dem Bett lagen, stockte ihm der Atem. Sie hatte also wirklich vor zu gehen!
Aber noch musste sie irgendwo sein. Ein Hauch ihres Parfums lag in der Luft, als sei sie im Raum. Nur wo? Versteckte sie sich vor ihm? Schnell öffnete er die Türen des großen Kleiderschranks. Nichts.
Tief enttäuscht wandte Jake sich ab. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sie ihn so einfach verlassen könnte. Bedeuteten ihr die sechs Jahre denn gar nichts, die sie zusammengearbeitet hatten? Dennoch, ohne ihr Gepäck konnte sie nicht abreisen. Vielleicht sollte er die Koffer einfach mitnehmen und irgendwo verstecken, wo Andi sie nicht finden konnte. In seinen Räumen? Doch dann wüsste sie, dass er ohne ihre Einwilligung ihre Suite betreten und ihre Koffer sozusagen als Geisel genommen hatte. Das wäre peinlich. Denn Andi war eine sehr aufrichtige Frau, der ehrenhaftes Verhalten über alles ging. Oft hatte sie Jake schon von etwas abgehalten, das sie nicht in Ordnung fand. Da konnte er nicht einfach ihre Koffer mitnehmen.
Hatte sie nicht gesagt, sie würde erst nach dem Fest verschwinden? Also würde eine Frau wie sie auch bestimmt Wort halten und warten, bis der letzte Gast gegangen war. Das heißt, bis dahin würde er sie finden müssen, um sie von ihrem verrückten Plan abzuhalten. Schnell knipste er das Licht aus und verließ den Raum.
Während er auf die Treppe zuging, warf er einen Blick den Flur hinunter in Richtung Ostflügel. Auch da war nichts zu sehen. Irgendwie hatte er ein ungutes Gefühl. Die gepackten Koffer waren ein ausgesprochen schlechtes Zeichen. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass Andi Ruthenia – und ihn – so einfach verlassen würde.
„Aber Jake, wo hast du dich denn versteckt?“ Maxi stand am Fuß der Treppe und blickte zu ihm herauf. „Colonel von Deiter hat angeboten, sich ans Klavier zu setzen. Wir alle haben Lust zu tanzen.“ Mit einem verführerischen Lächeln streckte sie beide Arme nach ihm aus. Es war klar, sie wollte ihn zu dem ersten Tanz abholen.
Wieder überfiel Jake dieses merkwürdige Gefühl, das er manchmal hatte, seit er nach Ruthenia zurückgekehrt war. Alles war so unwirklich: die altmodische Klavierbegleitung, obwohl es CDs und Bands gab, die festlich gekleideten Damen, die wie in den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts am liebsten noch Tanzkarten ausgegeben hätten. Wenn er doch jetzt in
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