Königsallee: Roman (German Edition)
Emotion würde ihn verwirren, aufregen, traurig stimmen. Lola Montez konnte auch nicht plötzlich aus Amerika zurückkehren und wieder vor ihren Bayernkönig treten.»
«Lola Montez?»
«Laß ihn in Ruhe seinen Gang zu Ende gehen. Vielleicht warst du der einzige, den er küßte und der es erwiderte, Tränen vergossen für mich … Willst du, daß er bei der Lesung dich plötzlich gewahrt? Daß er den Faden, am Pult die Fassung verliert? Daß der Abend und vielleicht einer seiner letzten öffentlichen Auftritte als Katastrophe endet? Das kannst du für einen kleinen Moment, der für dich vielleicht unerheblicher ist, nicht verantworten. Darfst du nicht, Klaus. Schone ihn und uns, meide frühere Liebe, laß alles im Gleichmaß ohne aufwühlende Sentimentalitäten. Wenn du ihn partout hören willst, versuche ich zwei Stühle vor einer Tür zu organisieren. Klaus Heuser trifft Thomas Mann nicht mehr.»
«Stühle vor der Lesung?»
«Im Schumannsaal.»
«Ist hier?» fragte Anwar.
«Wo sonst?» verwunderte sich Erika Mann beinahe erbost, «natürlich. Pünktlich seid ihr ja auch hier. Er ruht in dieser Heuss-Suite. Großes Progamm. Empfang im Malkasten. Ministeransprache. Mit einem Herrn Lindemann Besichtigung eines Theatermuseums. Entsühnung Düsseldorfs durch seine bloße Gegenwart. Du kannst nicht dazwischen.»
«Wo?» fragte Klaus Heuser, und Asche fiel ihm auf die goldene Jacke.
«Er schläft unten. Und du hier oben. Damit hat sich’s. Nach gründlicher Vorbereitung meinerseits könnt ihr natürlich gerne in Zürich vorbeischauen. Das ließe sich erwägen. Ein Ausflug zum Grandhotel Dolder und bei Kaffee und Kuchen das Panorama genießen. Er wird sinnieren, ich kann ihm den Schal richten. Du berichtest von Sumatra. Fein, Klaus», sie erhob sich, «ich habe dich immer für vernünftig gehalten. Hier keinerlei Überfall. Keine seelischen Fluten. Du wirst die Sorgen einer Tochter und Organisatorin verstehen. Sein Schaffen sollte gerade dir am Herzen liegen.»
«Ein Stück über Luther?»
«Wir werden sehen. Ich plädiere für die Fortsetzung des Krull . Das Buch hat eingeschlagen wie eine Bombe. Endlich etwas Beschwingtes, Geistreiches für dieses Land. Hochstapler sind viele, aber bei Felix Krull siegt die Liebe, möglicherweise. – Die Pflichten rufen. Ich danke euch sehr. Ich lasse euch noch zwei Bouteillen hochkommen.» Sie reichte beiden die Hand und küßte ihnen die Wangen. «Macht euch einen schönen Abend. Kein Zuwinken. Keine Umarmung. Kein Kontakt. Einfach Abwesenheit.» Sie ging zum Ausgang. «Ich baue auf dich, Klaus Heuser. Laß uns in Frieden.»
Die Tür klappte.
Anwar ließ sich rücklings aufs Laken sinken.
Die Luft stand. Fliegen kreisten um die Lampe.
Der Asiate legte einen Arm über die Augen, atmete flach und rasch.
Klaus Heuser starrte vom Frisiertisch zum Balkon. Minuten vergingen wie halbe Stunden. Im Kopf schepperte es ähnlich wie nach dem ersten Tag daheim. Vom Geländer aus behielten die Sperlinge ihn im Blick. Wie für eine kleine Zirkusnummer hüpfte einer über den Zwitschernachbarn. Erregt, zornig zerriß Klaus Heuser ein Sandwich und warf Brocken hinaus. Die gefiederte Schar schien auf Vesperimbisse zu lauern.
Wolken verharrten über dem Fluß. Holz knarrte, Bodendielen oder Lamellen des Fensterladens.
«Ausgeladen», vernahm Klaus vom Bett.
«Nein. Nicht einmal eingeladen.»
Unrat
Warum verfolgte ihn Thomas Mann? Nach einem Vierteljahrhundert plötzlich noch intensiver. Es mochte ein Fehler sein, nach achtzehn Jahren um den halben Erdball heimzukehren. Er hätte noch ein weiteres Jahr warten können. Doch der Moment des Wechsels zum Perlfluß hatte sich angeboten. Zudem war er nicht gereist, um zufällig Thomas Mann ausweichen zu sollen, sondern um Mira und Werner an seine Sohnesbrust zu drücken. Beide wurden gebrechlich. Wer wußte, was sich im Verlauf eines Jahres zutragen konnte? Als hingebungsvoller Raucher besaß Vater nicht die geschmeidigsten Herzkranzgefäße; und Mira mochte bei ihrem Singsang eine Kellerstufe übersehen; man wußte, was in höherem Alter ein Oberschenkelhalsbruch, Bettlägerigkeit, Lungeninsuffizienz heraufbeschwören konnten. Er hatte beide munter angetroffen. Und tot konnte er sich diese frohen Erdenbürger auch gar nicht vorstellen. Wenn er erst später und wegen einer Beerdigung eingetroffen wäre, so hätte dies den Rest seines Lebens eingedunkelt. In jungen Jahren wehmütig geschieden, am Pier von Bremerhaven – und dann
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